Die Netzhaut
hinzufügen können, legte aber keinen Wert auf einen offenen Streit mit dem Kommissar.
»Ist doch zumindest besser, sie wendet sich an mich, als dass sie ihre Informationen für sich behält.«
In diesem Punkt musste ihr der Kommissar widerwillig recht geben.
»Es könnte sein, dass sie die Wörter identifiziert hat, die ihre Schwester auf dem Videoclip sagt«, fügte er in neutralem Ton hinzu. »Haben Sie schon mal was von diesem Ferenczi gehört?«
Jennifer gelang es nicht, ein kurzes Auflachen zu unterdrücken. Kein anderes Fach der Medizin stand ihr so fern wie die Psychiatrie, die sie stets mit einer unklaren Terminologie und einer mangelhaften Methodik in Verbindung brachte, doch sie hatte den Namen Sándor Ferenczi inzwischen gegoogelt und über 112 000 Treffer erhalten.
»Er hat viel über Kinder geschrieben, die Opfer von sexueller Gewalt wurden«, erklärte sie. »Liss zufolge hat ihre Schwester Ferenczis Theorien für ihre Habilitationsschrift verwendet. Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, dann sollten wir uns diese Arbeit mal näher ansehen. Mailin Bjerke hat offenbar junge Männer behandelt, die früher sexueller Gewalt ausgesetzt waren.«
Während der zweiten Halbzeit rief Roar Horvath an. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass er es war, ehe sie auf das Display schaute.
»Wart mal kurz«, sagte sie und bahnte sich einen Weg in Richtung Ausgang.
»Ich muss mit dir sprechen, Jenny«, sagte er. Sie stand draußen im nasskalten Dunst, der vom Fluss Glomma aufstieg, und spürte, wie sie errötete. »War gestern in Bergen. Ich wollte dich anrufen, aber es war schon nach Mitternacht, als ich nach Hause kam.«
Wenn es nur um die Reise nach Bergen ging, hätte er auch jemand anders anrufen können.
»Du brauchst dir keine Entschuldigungen abzuringen, wenn du mich treffen willst«, entgegnete sie und schaute auf die Uhr. Sie konnte in wenigen Stunden in Manglerud sein, aber dann kam sie auf eine unwiderstehliche Idee. Ivar war das ganze Wochenende mit seinem Schwager auf einer Landwirtschaftsmesse, und die Jungen konnte sie problemlos über Nacht bei Freunden einquartieren.
*
Sie wippte mit ihrem Küchenstuhl, trank Bier und sah Roar dabei zu, wie er Eier und Milch verrührte, Speck briet, Tomaten und Gurken aufschnitt und würzte. Sie hatte sich eines seiner Hemden ausgeliehen, das so weit wie ein Umstandskleid war. Sie konnte sogar ihre Knie darunter verstecken.
»Hast du schon mal gehört, wie jemand deinen Namen auf Englisch ausspricht?«, unterbrach sie den Bericht von seinem Ausflug nach Bergen.
Er zog die Bratpfanne zur Seite.
»Ja, natürlich. Als ich in England war, hatten die immer alle viel Spaß daran, mich ›Schreihals‹ zu nennen.«
»Rory klingt gut«, meinte Jennifer. »Vielleicht sollte ich dich so nennen. Oder hast du noch einen zweiten Vornamen?«
Er zögerte ein wenig.
»Mihaly.«
»Mihaly Horvath? Das klingt ja völlig unnorwegisch.«
Er steckte seinen Kopf in den Kühlschrank und nahm mehrere Packungen mit geräuchertem Schinken heraus.
»Mihaly ist der Name meines Vaters. Und Roar war der beste Name, der meiner Mutter einfiel. Sie wollte wahrscheinlich nicht, dass ich als angeblicher Zigeuner gemobbt werde.«
»Dein zweiter Vorname wurde also nie benutzt?«
Er tat das Rührei in eine Schüssel.
»Mein Vater hat mich ab und zu Miska genannt.«
»Wie süß. Und ich habe mir deinen Vater eigentlich sehr streng und unnahbar vorgestellt. War er das nicht?«
Roar lächelte vage.
»Er ist als 18-Jähriger nach Norwegen gekommen. Seine Eltern waren Opfer des Stalinismus. Er kannte hier niemand und musste bei null anfangen. ›Mit zwei leeren Händen und einem eisernen Willen‹, wie meine Mutter stets sagte.«
Jennifer leerte ihr Bierglas.
»Ich habe meinen Jungs auch einen zweiten Vornamen gegeben. Den ältesten wollte ich eigentlich nach meinem alten Vater nennen, aber dieses eine Mal hat mein Mann Protest eingelegt. Er wollte partout nicht, dass ein Sechsjähriger in Sørum an der Grundschule anfängt und Trym Donald heißt.«
»Der Klügere gibt nach«, entgegnete Roar grinsend und deckte den Küchentisch. Sein Wohnzimmer kannte sie nach wie vor nicht, aber das war schon in Ordnung.
»Was sagt denn Viken dazu?«, wollte sie wissen, als er eine Kerze anzündete und sich ihr gegenübersetzte.
»Dass du versuchst, die Ermittlungen an dich zu reißen?«
Sie schnaubte.
»Wir hätten sofort auf die Gemeinsamkeiten mit dem Ylva-Fall reagieren sollen«,
Weitere Kostenlose Bücher