Die Netzhaut
wollten.
»Am nächsten Tag habe ich einen Arzt angerufen«, fuhr Ragnhild Bjerke fort, ehe Jennifer sich entscheiden konnte. »Doch Lasse weigerte sich, mich zu begleiten. Ein paar Wochen später ist er dann ausgezogen. Hat sich nicht mal von mir verabschiedet, auch nicht von Mailin. Doch Liss bildet sich ein, dass er mit ihr gesprochen hat.«
Sie knöpfte die Tasche wieder zu und behielt sie auf ihrem Schoß.
»Verstehen Sie, dass ich Liss nichts davon erzählt habe? Sie vergötterte ihren Vater. Verstehen Sie, dass es besser war, dass sie mir die Schuld für sein Verschwinden gibt und mich dafür hasst?«
Jennifer wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Sie sagten ja, dass Sie beruflich viel unterwegs waren«, begann sie stattdessen. »Befürchten Sie vielleicht, dass er Mailin etwas angetan …«
Ragnhild Bjerke riss die Augen auf.
»Nein, das kann er nicht … ich meine, es war ja nur ein Alptraum.«
Sie schüttelte lange den Kopf.
»Das hätte ich gewusst. Mailin hat nie etwas in dieser Art angedeutet … Sie erzählt mir alles … hat sie immer getan.«
Jennifer fühlte sich plötzlich hilflos und ärgerte sich, so weit gegangen zu sein.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee?«
»Ein Glas Wasser vielleicht.«
Als Jennifer das Glas auf den Tisch stellte, fügte Ragnhild Bjerke hinzu: »Ich verstehe, warum Liss hierhergekommen ist. Es tut gut, mit Ihnen zu sprechen.«
Erneut stieg Jennifer die Wärme ins Gesicht.
»Liss hat kein Vertrauen zur Polizei«, lenkte sie ab.
»Das hatte sie noch nie. Nicht seitdem sie mehrfach auf harmlosen Demonstrationen festgenommen wurde. Und ich weiß auch nicht, aber solche Verhöre … sind nicht leicht. Wenn man nach den nebensächlichsten Dingen gefragt wird. Als würde man selbst verdächtigt, Mailin etwas angetan zu haben. Können Sie sich vorstellen, wie das ist? Verdächtigt zu werden, die eigene Tochter getötet zu haben?«
Jennifer hörte, wie etwas mit ihrer Stimme geschah, wartete darauf, dass es ganz hervorbrach, doch im nächsten Moment sprach Ragnhild Bjerke wieder genauso monoton wie zuvor.
»Und Tage? Er ist der zuverlässigste Mensch, den man sich nur vorstellen kann. Er kam zu uns und war den Mädchen der Vater, der ihnen fehlte und den sie brauchten. Doch nie hat er einen Dank dafür bekommen. Auch ich hätte ihm deutlicher sagen müssen, wie dankbar wir ihm alle sein sollten. Und dann all diese Fragen, wo er war, als Mailin verschwand, und wann er an diesem Abend nach Hause kam. Plötzlich fiel mir wieder ein, dass ich an diesem Abend mehrmals bei ihm angerufen habe. Er wollte ja Viljam mitnehmen, und ich wollte ihn daran erinnern, etwas zu essen mitzubringen. Eigentlich ist er immer zu erreichen, wenn er in seinem Büro am Schreibtisch sitzt, doch ausgerechnet an diesem Abend …«
»Sie haben ihn nicht erreicht?«
»Später sagte er, die Telefonanlage des Instituts sei gestört gewesen. Aber dann kamen all diese Fragen, und plötzlich ist da dieser Zweifel und frisst sich in einen hinein, und man traut sich nicht mehr, der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Haben Sie das mit dem Telefon der Polizei erzählt?«
Sie antwortete nicht. Ein weiteres Mal dachte Jennifer daran, sie um Erlaubnis zu fragen, ob sie diese Informationen weitergeben durfte, doch als sie dem Blick von Mailins Mutter begegnete, ließ sie es dabei bewenden. Es gibt Steine, die man nicht umdrehen sollte, schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht später, falls es sich als wichtig erweist, doch fürs Erste sollte man diese Frau in Ruhe lassen.
Selbst die Freude, Kommissar Viken anzurufen und ihn mit Informationen zu versorgen, die seine eigenen Ermittler nicht in Erfahrung gebracht hatten, verblasste, wenn man sie in diesem Licht betrachtete.
23
Mittwoch, 7. Januar, nachts
J im Harris lief von Fagerborg hinunter, überquerte die Suhms gate und setzte seinen Lauf auf der Sorgenfrigata fort. Keine Autos auf der Straße, er hatte die ganze Fahrbahn für sich allein. Vor ein paar Jahren war er schneller gewesen, doch langsam kam er wieder in Form. Er hatte sich entschieden. Keiner glaubte mehr an ihn, keiner erwartete sich etwas. Doch er würde zurückkommen, sich aus der Krise herauslaufen. Die verdammten Schulden bezahlen, sich an der Sporthochschule einschreiben und mit dem Training beginnen. Auf einen eigenen Trainer würde er vorerst verzichten müssen. Denn niemand, der einen guten Namen hatte, wollte etwas mit ihm zu tun haben. Noch nicht.
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