Die Netzhaut
verstohlenen Blick zu, deren Gesicht genauso starr und ausdruckslos war wie ihre Stimme.
»Ich habe mir das bis jetzt nicht vorstellen können«, erwiderte sie. »Konnte überhaupt nicht daran denken. Mein Mann und meine Tochter waren an Weihnachten hier. Ich verstand nicht, wie sie dazu in der Lage waren. Aber jetzt muss ich sie sehen.«
»Die meisten sind hinterher froh darüber«, ermutigte sie Jennifer.
Der Präparator wartete vor der Kapelle. Er hieß Leif, und Jennifer hatte ihn darum gebeten, die Vorbereitungen zu übernehmen. Seit fünfundzwanzig Jahren arbeitete er nun schon am Institut und kannte alle Kniffe, die erforderlich waren, um einen obduzierten Körper so ansehnlich wie möglich aussehen zu lassen. Nachdem er sie beide hereingelassen hatte, entfernte er das Laken und zog sich lautlos zurück. Zögerlich trat Ragnhild Bjerke an die Bahre. Fast zehn Minuten lang stand sie regungslos da und betrachtete ihre tote Tochter mit den zerstörten Augen, der man die Hände auf der Brust gefaltet hatte. Jennifer brach die Stille, indem sie ein bisschen näher heranging. Das Klappern der hohen Absätze auf den Steinfliesen ließ Ragnhild Bjerke zusammenzucken, als erwache sie aus einer Trance. Sie drehte sich um und huschte zur Tür hinaus.
Sie saßen an dem kleinen, schwarzen Tisch in Jennifers Büro. Während des Rückwegs von der Kapelle hatten sie kein Wort gewechselt. Das Gesicht von Ragnhild Bjerke war immer noch genauso unbeweglich wie zuvor.
»Der Ring«, murmelte sie schließlich.
Jennifer erinnerte sich, dass Liss dasselbe gesagt hatte. Es fehlte der Goldring, den Mailin stets getragen hatte.
»Er war nicht da, als wir sie gefunden haben«, bekräftigte sie.
»Jemand hat den Ring genommen«, murmelte Ragnhild Bjerke so leise, als spreche sie mit sich selbst.
Jennifer wunderte sich darüber, dass Mailins Mutter gerade das aufgefallen war.
»Es muss ein ganz besonderer Ring gewesen sein«, sagte sie vorsichtig.
Es dauerte eine Weile, ehe ihr Gegenüber antwortete:
»Sie hat ihn nie abgenommen. Mailin trägt den Namen ihrer Großmutter. Als sie achtzehn wurde, hat sie ihren Ehering geerbt.«
»Dann trägt er sicher eine Inschrift.«
Ragnhild Bjerke nickte unmerklich.
»›Dein Aage‹ steht darin. Daneben das Hochzeitsdatum. So etwas kann doch niemand wegen eines Rings getan haben.«
Jennifer entgegnete nichts.
»Ich dachte, es würde etwas mit mir passieren«, fuhr Ragnhild Bjerke fort. Ihre Stimme klang immer noch hohl und monoton. »Ich dachte, es würde etwas in mir auslösen.«
Ihr Blick war starr, doch dahinter lag ein Ausdruck, der an Panik erinnerte. »Ich verstehe das nicht. Ich spüre nichts.«
Jennifer hätte viel dazu sagen können. Nach all den Gesprächen, die sie im Lauf der Jahre mit Angehörigen geführt hatte. Manchmal hatte sie sich selbst als Fährmann betrachtet, der die Hinterbliebenen der Toten über den Fluss und wieder zurückbrachte. Sie hätte ihr sagen können, dass es völlig normal sei, von einer Flut von Gefühlen mitgerissen zu werden, die man unmöglich meistern könne. Dass es ebenso normal sei, sich abzukapseln und nichts als Leere zu empfinden. Doch nichts von alldem brachte sie jetzt über die Lippen. Stattdessen streifte sie das erste Mal seit Jahren eine ganz bestimmte Empfindung: der starke Wunsch nach einer Tochter. Die Erkenntnis, dies nie zu erleben, war wie ein matter Widerschein der Trauer, von der die Mutter der Toten umgeben war.
»Liss vertraut Ihnen«, sagte Ragnhild Bjerke.
Wieder einmal spürte Jennifer, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg.
»Sie ist ein hübsches Mädchen.«
Ragnhild blickte auf den Parkplatz hinaus.
»Sie hat sich vor mir zurückgezogen. In gewisser Weise habe ich sie zuerst verloren. Vor vielen Jahren.«
»Es ist bestimmt nicht zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.«
Ohne ihren Blick vom Fenster abzuwenden, schüttelte Ragnhild Bjerke den Kopf.
»Ich habe alles versucht. Eigentlich hat sie sich nie zu mir hingezogen gefühlt. Sie war immer ein Papakind.«
»Aber sie hat ihren Vater doch seit Jahren nicht gesehen.«
»Nicht mehr, seit sie sechs war.« Ragnhild Bjerke schluckte ein paarmal. »Sie wirft mir vor, dass er uns verlassen hat. Sie glaubt, dass ich ihn vertrieben habe.«
»Können Sie nicht mit ihr darüber reden? Jetzt, wo sie erwachsen ist.«
Jennifer ahnte, wie ähnlich die älteste Tochter ihrer Mutter gewesen war. Von Liss hingegen konnte sie nicht die geringsten Spuren in Ragnhild
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