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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Flur. Sie hörte, wie er eine Schublade der Kommode aufzog. Als er zurückkam, hielt er einen Brief in der Hand. Bitte nicht für mich, bat sie im Stillen.
    »Tage war gestern hier und hat diesen Brief abgeliefert. Natürlich wollte er auch wissen, wie es dir geht.«
    Er legte den Brief vor ihr auf den Tisch. Er war an die Adresse ihrer Mutter in Lørenskog adressiert. Der Umschlag war cremeweiß, das Papier dick, die mit Tinte geschriebenen Buchstaben zierlich und regelmäßig. Der Brief trug niederländische Briefmarken und war in Amsterdam abgestempelt worden. Auf der Rückseite stand in Druckbuchstaben der Name des Absenders: »A. K. El Hachem«. Es war Zakos Nachname. Zum Teufel mit dir, Rikke! Sie blieb sitzen und starrte ihn an, wartete auf die Reaktion, die kommen musste. Es dauerte fünf Sekunden, vielleicht länger. Dann reagierte ihr Körper automatisch. Sie entschuldigte sich, hastete die Treppe hinauf und stürzte ins Badezimmer. Steckte sich den Finger in den Hals, doch ihr Magen war leer. Sie beugte sich über die Toilettenschüssel, würgte und spuckte ein wenig, während ein Wasserwirbel alles fortspülte.
    Im Zimmer stellte sie sich mit dem Brief in der Hand ans Fenster. Draußen auf dem Dach war wieder die Elster zu hören.
Wirf ihn ungeöffnet weg!,
kreischte sie. Nein, dachte sie. Dann wird alles nur noch schlimmer. Sie würde jede Nacht wach liegen und darüber nachgrübeln, was wohl in dem Brief gestanden hat. Würde darauf warten, dass jemand in Uniform kam, ihr die Decke wegriss und sie in das bereits wartende Auto verfrachtete. Auf der Rückbank sitzt ein Mann mit grauem Mantel, dessen Namen sie nicht vergessen kann. Er heißt Wouters.
    Das Briefpapier hatte dieselbe cremeweiße Farbe wie der Umschlag. Der Briefkopf trug das zierliche Monogramm » AKH «. »Dear miss Liss Bjerke«. Zako hatte sie manchmal »Miss Lizzi« genannt, erinnerte sie sich jetzt, vor allem, wenn er eine spöttische Bemerkung gemacht hatte. A. K. El Hachem war nicht spöttisch. Er war Zakos Vater. In der Hoffnung, es sei nicht
inconvenient,
wende er sich in dieser Form an sie. Er habe gehört, dass sie vor kurzem ihre Schwester verloren habe, und brachte sein tiefstes Mitgefühl zum Ausdruck. Er verstand, dass sie aus diesem Grund nicht zu Zakos Beerdigung habe kommen können. Sie überflog noch weitere Höflichkeitsfloskeln, die genauso gewunden und wohlgesetzt waren wie sein Monogramm. Sie suchte nach einer Begründung, warum sie jetzt mit diesem Brief in der Hand am Fenster stand. Sie musste den Brief gründlicher lesen. Es folgten ein paar Sätze dazu, was es heiße, den nächsten Angehörigen zu verlieren. Zako war A. K. El Hachems einziger Sohn gewesen – Liss hatte immer geglaubt, Zako habe noch einen jüngeren Bruder –, und sie beide hätten sich immer sehr nahegestanden, auch wenn sein Sohn in den letzten Jahren einen Kurs eingeschlagen habe, den er nicht billigen könne. Bis das Unfassbare geschehen sei, habe er dennoch die Hoffnung gehabt, sein Sohn möge auf den Pfad der Tugend zurückkehren, wie geplant in die Firma seines Vaters einsteigen, diese später übernehmen und das fortführen, was vier Generationen durch fleißige Arbeit aufgebaut hätten. Denn dass Zako ein junger Mann mit ausgeprägten Fähigkeiten sei, bezweifle niemand, der ihn gekannt habe. Mit diesen Worten näherte sich der Vater dem eigentlichen Grund seines Schreibens. In den Gesprächen, die er im Laufe des letzten Jahres mit seinem Sohn geführt habe, sei deutlich geworden, dass eine bedeutsame Veränderung in seinem Leben stattgefunden habe. Es ginge dabei um eine Frau. Nun habe Zako niemals Schwierigkeiten gehabt, Frauen für sich zu interessieren, was sowohl ein Geschenk als auch eine Last gewesen sei. Doch diese Frau, das habe ihm sein Sohn versichert, sei nicht eine von vielen, sondern die Eine gewesen. Er habe in letzter Zeit auch eine Veränderung an seinem Sohn festgestellt. Sein ganzes Wesen sei sanfter und nachdenklicher geworden. Er habe die Planung einer sicheren Zukunft in den Vordergrund gerückt, sich mehr um seine Eltern und Geschwister gekümmert. Es sei, kurz gesagt, zu einem Reifeprozess gekommen, den nur eine Frau in einem jungen, egozentrischen Mann bewirken könne. Gleichwohl habe er, zugegebenermaßen mit einer gewissen besorgten Ungeduld, nie daran gezweifelt, dass dieser Reifeprozess irgendwann in Gang gesetzt werden würde. Ganz gewiss sei diese Frau, also Miss Bjerke, seinem Sohn gewissermaßen aus

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