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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Bjerkes Gesicht oder Statur erkennen.
    »Vielleicht war es ein Fehler von mir, ihr nicht von Anfang an die Wahrheit zu sagen. Mailin wusste ja Bescheid, aber Liss … Sie war immer so zerbrechlich. Wahrscheinlich hatte ich Angst, dass sie zerbricht.«
    Jennifer bemühte sich, ihre eigene Neugier von dem Redebedürfnis ihrer Besucherin zu trennen.
    »Ist etwas mit Ihnen und Ihrem Mann geschehen?«, fragte sie vorsichtig.
    »Geschehen? Es geschah die ganze Zeit etwas. Er war Maler. Es ging ihm immer nur um seine Bilder … Nein, das ist ungerecht. Die Mädchen waren ihm wichtig, auf seine Weise, besonders Liss. Solange sie ihn nicht bei der Arbeit störten. Er besaß ein Atelier in der Stadt, doch wenn er zu Hause war, malte er meistens unten im Keller. Für mich war das in Ordnung. Ich war damals beruflich sehr eingespannt.«
    Jennifer wusste, dass Ragnhild Bjerke für eines der großen Verlagshäuser arbeitete.
    »Vor allem im Herbst war ich viel unterwegs, um die neuen Bücher zu promoten, oft auch über Nacht.«
    »Warum hat Ihr Mann Sie verlassen?«
    Jennifer hörte, dass diese Frage viel zu privat war. Sie wollte sich gerade dafür entschuldigen, als Ragnhild Bjerke antwortete:
    »Er schätzte sein eigenes Talent sehr hoch ein. Hielt sich für einen großen Künstler, dem nichts in die Quere kommen durfte. Damit stellte er sich selbst einen Freibrief aus, so zu leben, wie es ihm passte.«
    Jennifer fand die Antwort nicht allzu erhellend, hakte aber nicht nach.
    »Nachdem er uns verlassen hatte, führte er viele Jahre lang ein unstetes Leben. Plötzlich hörten wir, dass in Amsterdam eine große Ausstellung seiner Bilder stattfinden sollte. In den Zeitungen waren umfangreiche Artikel, und selbst das Fernsehen berichtete darüber. Alle sprachen davon, dass jetzt sein großer Durchbruch gekommen sei. Aber dann schlief alles wieder ein, ohne dass sich irgendetwas verändert hätte. Jetzt wohnt er in Montreal. Hat dort eine jüngere Frau kennengelernt. Doch inzwischen ist er wohl schon wieder seit mehreren Monaten unterwegs. Niemand kann ihn erreichen. Er weiß noch gar nicht, dass Mailin …«
    Jennifer versuchte sich vorzustellen, wie es war, so weit von seinen Kindern fortzuziehen.
    »Kanada ist weit weg«, sagte sie, um ihr Gegenüber zu animieren, mehr zu erzählen.
    Ragnhild Bjerke fixierte einen imaginären Punkt draußen vor dem Fenster.
    »Daran liegt es nicht, dass er die Mädchen seit so vielen Jahren nicht gesehen hat. Auch in seiner Kopenhagener Zeit hat er keinen Kontakt zu ihnen aufgenommen. Er wollte sie nicht mehr. Doch ich glaube, dass es auch eine Art Zwang war.«
    Sie zog ein Taschentuch hervor, presste es sich gegen die Nase, als müsste sie niesen, und nahm es wieder weg.
    »Er war ein gepeinigter Mann. Nicht damals, als wir uns kennenlernten und als die Kinder noch klein waren. Doch ein paar Jahre später ging es los. Ich wusste ja, dass seine Mutter unter einer schweren Nervenkrankheit gelitten hat, und machte mir Sorgen um ihn. Ich wollte, dass er zum Arzt ging, aber davon wollte er nichts wissen. In den Nächten tigerte er immer öfter ruhelos ums Haus oder stand am Fenster und redete vor sich hin.«
    »Halluzinationen?«
    »Das glaube ich nicht. Eher, als würde er mit offenen Augen schlafen. Danach konnte er sich nicht mal daran erinnern, dass ich mit ihm gesprochen habe.«
    Sie holte einen Fettstift hervor und fuhr sich damit über die trockenen Lippen.
    »Er hatte furchtbare Alpträume. Einmal habe ich ihn in Mailins Zimmer gefunden. Er stand an ihrem Bett und schrie. Es hat lange gedauert, bis er mich bemerkte. Er zitterte und war völlig außer sich. ›Ich habe sie nicht umgebracht!‹, rief er. Ich zerrte ihn aus dem Zimmer, ohne dass er richtig zu sich kam. ›Du hast niemand umgebracht, Lasse!‹, versicherte ich ihm. ›Ich habe es geträumt‹, rief er, ›und jetzt kann ich nicht aufwachen.‹
    ›Wovon hast du geträumt?‹
    ›Von den Mädchen‹, murmelte er. ›Ich habe geträumt, dass ich ihre Bäuche aufschlitze und ihre kleinen Körper aufesse.‹«
    Sie schloss die Augen. Jennifer war nicht imstande, etwas zu sagen. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, auf die sie nicht vorbereitet war. Roar hatte mehrmals erwähnt, dass die Polizei den Vater bisher nicht aufgespürt hatte. Was sie nun, in aller Vertraulichkeit, erfuhr, dürfte die Ermittler interessieren. Eigentlich hätte sie das Gespräch abbrechen und sich erkundigen sollen, ob sie es wirklich fortsetzen

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