Die Netzhaut
hast du ja selbst gesagt, dass sie von einem ihrer Patienten bedroht wurde.«
Roar sah nachdenklich aus. Sie vermutete, dass er sich insgeheim fragte, ob er nicht schon zu viele Details verraten hatte. Sie musste lächeln bei dem Gedanken, was Viken wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sie gerade in der Küche eines seiner vertrauenswürdigsten Mitarbeiter saß, mit nichts anderem als einem Männerhemd bekleidet. Ihr Slip musste immer noch irgendwo im Schlafzimmer oder auf dem Flur liegen.
»Einer unserer Mitarbeiter erstellt gerade eine Liste all ihrer Patienten der letzten Jahre«, sagte er und schob den Teller weg. »Das ist gar nicht so einfach, weil nur wenige Kassenpatienten darunter sind. Was die Teilnehmer ihres Habilitationsprojekts angeht, können wir anscheinend auf die Hilfe ihres Betreuers, Tormod Dahlstrøm, zählen.«
»Dahlstrøm war ihr Betreuer?« Jennifer sah beeindruckt aus. Sogar sie hatte seine Fernsehserie über psychologische Aspekte bei kulturellen Konflikten verfolgt.
Sie schob sich den Rest des geräucherten Schinkens in den Mund und war immer noch unbeschreiblich hungrig, wie sie verblüfft feststellte. »Was ist mit diesem Jim Harris? Liss ist davon überzeugt, dass er irgendwas gesehen hat. Vielleicht ist er der Patient, dessen Therapie sie abgebrochen hat, nachdem er sie bedroht hatte. Scheint mir ein unberechenbarer Typ zu sein.«
»Wir versuchen ihn aufzuspüren«, erklärte Roar. »Ist aber schwierig. Vielleicht werden wir die Medien um Mithilfe bitten. Das entscheidet sich am Wochenende.«
»Das muss für euch doch sehr wichtig sein. Mailin hatte schließlich einen Termin mit ihm, als sie verschwand.«
Roar wiegte den Kopf hin und her.
»Wir können immer noch nicht mit Sicherheit sagen, dass sie an diesem Tag in der Nähe ihrer Praxis war.«
»Obwohl ihr Auto draußen stand? Ihr wisst doch ungefähr, wann sie die Hütte verlassen hat. Und der Parkschein gibt einen genauen Zeitpunkt an.«
»Sie kann auch an vielen anderen Orten gewesen sein. Es gibt weder Zeugenbeobachtungen noch elektronische Spuren.«
Jennifer dachte nach.
»Was ist mit der Mautstation?«, fragte sie. »Alle Autos, die in diese Stadt hineinfahren, werden ja irgendwie registriert.«
Roar grunzte.
»Haben wir natürlich kontrolliert. Mailin Bjerke hat per SMS bezahlt. Das heißt, dass ihr Auto an der Mautstation fotografiert wurde. Aber diese Fotos werden nach wenigen Tagen vernichtet.«
Jennifer konnte sich nicht beherrschen.
»Ihr seid also mit anderen Worten ein bisschen spät dran gewesen.«
Sie fügte mit ironischer Stimme hinzu: »Nur dieses eine Mal, versteht sich.«
Der Versuch, ihn aufzuziehen, schien an ihm abzuprallen. Die drei Möwen auf seiner Stirn waren jedenfalls fast verschwunden.
»Es gibt eben Grenzen, was man in den ersten Tagen in einer Vermisstensache erreichen kann«, entgegnete er gleichmütig. »Und das Auto war ja längst gefunden worden.«
Er legte ihr den Rest des Rühreis auf den Teller.
»Sehe ich so hungrig aus?«, wollte sie wissen.
»Ist ja noch früh am Abend, nicht mal elf Uhr.« Er legte seine Hand auf ihre. »Und ich will, dass du bis morgen früh durchhältst.«
Mit einem Seufzen, das keinen allzu heftigen Protest signalisierte, gab sie ihm zu verstehen, dass sie sich durchaus vorstellen konnte, die Nacht in einer Junggesellenwohnung in Manglerud zu verbringen.
22
Dienstag, 6. Januar
A ls es an der Tür ihres Büros klopfte, sprang Jennifer auf und öffnete. Die Frau, die vor der Tür stand, war deutlich größer als sie. Sie war ungefähr Mitte fünfzig und hatte dunkle Haare, doch ihre nicht gefärbten Augenbrauen ließen darauf schließen, dass sie einst blond gewesen war.
»Ragnhild Bjerke«, entgegnete sie, nachdem Jennifer sich vorgestellt hatte. »Freut mich.«
Ihre Stimme klang flach und gepresst, und die Höflichkeitsphrase hatte wohl kaum ihre aufrichtigen Gefühle zum Ausdruck gebracht. Jennifer hielt ihr die Tür auf, doch Ragnhild Bjerke verharrte vor der Schwelle.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich sie gerne sofort sehen.«
Jennifer hatte vollstes Verständnis dafür, dass die Mutter von Mailin Bjerke das, was sie sich vorgenommen hatte, nicht aufschieben wollte. Während sie den Flur hinuntergingen, sagte Jennifer:
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Angehörigen unsicher sind, ob sie die Verstorbene sehen möchten oder nicht.«
Nachdem sie das Wort »Verstorbene« ausgesprochen hatte, warf sie Frau Bjerke einen
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