Die Netzhaut
Kais, bei der brennenden Fackel, blieb er stehen.
The Eternal Peace Flame.
Ein paar Boote lagen vertäut am Kanal. Er betrat den Steg und ging auf die Skulpturen zu, die auf Stelzen im Wasser standen. Er warf einen Blick auf sein Handy, es war fünf nach halb zwei. Derjenige, mit dem er verabredet war, müsste jetzt hier sein.
Plötzlich hörte er, wie etwas auf einem der Boote zu seiner Linken laut auf das Deck fiel, Metall knallte auf Metall. Er drehte sich um und spähte ins Halbdunkel. In diesem Moment begriff er, dass dieses Geräusch mit ihm zu tun hatte, mit seiner Verabredung, mit dem, was er an jenem Donnerstag vor Mailins Praxis beobachtet hatte, mit den dreißigtausend, die er bekommen sollte. Doch er hörte keine Schritte hinter sich. Etwas traf ihn am Hals, bohrte sich von der Seite in ihn hinein, und plötzlich wurde alles klar um ihn her und leuchtete wie am helllichten Tag. Er stand wie festgefroren in diesem gleißenden Licht, als sein Mund gesprengt wurde und etwas aus ihm heraussprudelte.
24
A m Mittwochmorgen wurde Liss von einer kreischenden Elster geweckt, die vor ihrem Fenster saß. Sie stand auf und schloss das Fenster. Jetzt konnte sie nicht mehr schlafen. Sie blieb für eine Weile auf der Bettkante sitzen, ihre nackten Füße auf dem kalten Fußboden. Was hatte sie heute Nacht bloß geträumt? Der Traum steckte noch in ihr, als hätte jemand in ihren Gedanken gewildert, sich die besten Stücke herausgepickt und kleine Löcher zurückgelassen.
Sie zog sich Hemd und Hose über und stapfte auf den Flur hinaus. Hörte, dass Viljam unten war. Sie ging rasch aufs Klo und dann zu ihm hinunter. Er saß mit der
Aftenposten
am Küchentisch und hatte eine Tasse vor sich stehen. Erneut dieser Gedanke, dass er ebenso trauerte wie sie und am liebsten für sich allein war. Sie war versucht, ihm über die Haare zu streichen. Das geht nicht vorbei, Viljam, aber wir müssen nach vorne schauen.
»Hast du schon mal daran gedacht, wie ähnlich eure Namen sind?«
Er schaute zu ihr auf und lächelte kurz.
»Mailin hat das auch gesagt, mir war es gar nicht aufgefallen. Viljam klingt fast wie Mailin rückwärts.«
Das andere musste Mailin auch bemerkt haben. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Nicht so sehr die einzelnen Züge, aber etwas in seinem Blick. Seine Art, die Hände zu bewegen. Der Klang seiner Stimme. Dinge, an die Liss sich zu erinnern glaubte.
Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf die Fensterbank. »Wie lange bleibst du noch in Norwegen?«
Sie wusste nicht, ob sie überhaupt nach Amsterdam zurückkehren würde. Mailin hatte sie mutig genannt. Vielleicht war es eher der Gedanke, dass es Mailin gab, der sie mutig hatte werden lassen.
»Nach der Beerdigung werde ich weitersehen.« Sie goss sich Kaffee in einen Becher ein. Er war weiß mit einem großen, roten M darauf. »Meine Mutter hat immer noch nicht von der Polizei Bescheid bekommen, ob wir sie einäschern lassen können. Das hätte Mailin sich gewünscht.«
Sollte Mailins Leichnam unter der Erde liegen? Plötzlich dieser Gedanke: Sie darf nicht frieren. Wir müssen sie warm anziehen, sie in Decken einwickeln.
»Hast du Kontakt zu irgendwelchen Freunden hier?«, fragte Viljam, der offenbar über etwas anderes reden wollte.
»Ich war einmal mit einer Freundin in der Stadt, direkt vor Weihnachten.«
Sie erzählte von ihrem Abend mit Catrine. Von der Party, auf der sie gewesen war. Erwähnte auch den Fußballer, verschwieg jedoch, dass sie sich später noch einmal mit ihm getroffen hatte.
»Und sein Name?«
Den hatte sie bislang nicht erwähnt. Der tat hier nichts zur Sache. Sie drehte den Becher in ihrer Hand.
»Jomar oder so ähnlich.«
»Spielt der bei Lyn Oslo? Jomar Vindheim?«
»Kann schon sein«, antwortete sie mit übertriebener Gleichgültigkeit. »Kennst du ihn etwa persönlich?«
»Nein, aber alle, die sich ein bisschen für Fußball interessieren, kennen ihn. Er hat sogar in der Nationalmannschaft gespielt. Selbst Mailin wusste, wer er war.«
»Mailin? Die hat von Fußball doch überhaupt keine Ahnung gehabt.«
Viljam zuckte die Schultern.
»Einmal war er auf der ersten Seite des Sportteils, und da hat sie gefragt: ›Ist das nicht Jomar Vindheim?‹ Ich glaube, sie ist ihm mal irgendwo begegnet.«
Das konnte sich Liss nicht vorstellen. Zwei Mal hatte sie Jomar bisher getroffen, und er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er mit Mailin persönlich bekannt war.
Plötzlich stand Viljam auf und ging auf den
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