Die Netzhaut
Aber das Blatt würde sich wenden. Erst einmal musste er die dreißigtausend bezahlen. Karam hatte nach ihm gefragt und noch einmal betont, dass er ihn zum Krüppel machen würde. Das war das Einzige, wovor Jim Angst hatte. Im Rollstuhl zu landen. Er hatte Karam eine Nachricht zukommen lassen. Noch vor Ende der Woche würde er das Geld bekommen. Er bog in den Bogstadsveien ein. Beschleunigte, obwohl der Asphalt dort glatter war. Er würde es allen beweisen, die ihm den Rücken gekehrt hatten. Auch denen, die ihn in den Dreck gestoßen hatten. Nur Mailin Bjerke hatte ihn nie aufgegeben. Doch sie machte ihn so schrecklich wütend. War eigentlich ziemlich rücksichtslos. Fand den wunden Punkt und stocherte darin herum. Trotzdem war er an jenem Donnerstag zu ihr gegangen. Zum ersten Mal war sie nicht da, als er kam. Hatte keine Nachricht für ihn hinterlassen. In ihrer Praxis war alles dunkel gewesen. Rasend vor Zorn, hatte er immer wieder gegen die Haustür getreten und war ein paarmal um den Block gegangen. Ihr Auto war doch da, verdammt, ein Hyundai mit einer Beule im Kotflügel. Den erkannte man leicht wieder. Doch erst als er um die Ecke biegen wollte und sich umdrehte, sah er, was geschah … Und jetzt war sie tot. Er hatte vor ein paar Tagen in der Zeitung davon gelesen. Trotzdem war er noch einmal hingefahren. Als würde sie immer noch in ihrem Büro sitzen und ihm versprechen, alles zu tun, um ihm zu helfen. Die Tür stand offen, also ging er hinein. Aus alter Gewohnheit öffnete er ein paar Schubladen. Die Leute ließen die verschiedensten Dinge herumliegen. Ihr Terminkalender lag auf dem Schreibtisch. Er schlug die Seite auf, auf der ihr heutiger Termin stand. Seine Initialen: » JH « und daneben die Zeit: »17 Uhr«. Offenbar war es ihr einziger Termin an diesem Nachmittag. Darunter stand: » BERGER , Kanal 6, Nydalen, 20 Uhr«. Und eine Notiz, die er nicht verstand, etwas mit »Jakka«. Er hatte die Seite herausgerissen. Oft fragte er sich, warum er so etwas tat. Wahrscheinlich, um nicht in irgendetwas hineingezogen zu werden.
Die Frau, die ihn überraschte, war also ihre Schwester. Darauf wäre er nie im Leben gekommen. Sie sah Mailin überhaupt nicht ähnlich. Ein nervöses und seltsames Mädchen. Sie hätte aus einem Märchenbuch stammen können. Brüder Grimm, dachte er. Das Märchenbuch hatte in seiner Kindheit jahrelang unter seinem Bett gelegen. Diese Schwester wollte etwas von ihm, tauchte ständig in seiner Nähe auf. Sie war hinter ihm her, da bestand kein Zweifel. Darum hatte er sie im Park abgepasst. Aber dann sagte sie etwas, das ihm plötzlich Aufschluss darüber gab, was er an jenem Donnerstag in der Welhavens gate gesehen hatte. Jedenfalls verstand er genug, um die Chance zu ergreifen und einen Köder auszulegen. Volltreffer! Denn es gab jemand, der viel mehr Grund zur Nervosität hatte als er.
Jim hatte sich entschlossen, fürs Erste nicht mehr als dreißigtausend von ihm zu fordern. Dann würde er mit fünf- oder zehntausend weitermachen und die Beträge langsam erhöhen. Das konnte ein hübscher Nebenverdienst werden. Vor Karam hatte er keine Angst mehr. Er lief. Würde sich aus allem herauslaufen. Überquerte den Verkehrskreisel hinter dem Nationaltheater und rannte den Munkedamsveien hinunter. Hier war es nicht glatt, die Schuhe fanden guten Halt. Mit ihnen war er zufrieden. Hatte sie in einem Einkaufszentrum mitgehen lassen. Zwar heulte die Alarmanlage los, doch der Ladendetektiv, der
ihn
einholte, musste erst noch geboren werden. Die Schuhe waren genauso leicht wie die besten Nike-Schuhe, die er besessen hatte, doch mit noch besseren Sohlen.
Erst unten am Fjord verlangsamte er das Tempo. Hätte die ganze Nacht laufen können. Langsam näherte er sich der Form von 2003, seiner besten Saison, in der er im Juniorenbereich über 400 und 800 Meter neue Fabelrekorde aufgestellt hatte. 800 Meter ist der größte Spaß. Wenn er zu seinem gnadenlosen, unglaublichen, unmenschlichen Endspurt ansetzt, lässt er alle anderen einfach hinter sich.
Alle Restaurants und Kneipen am Meer hatten längst geschlossen. Kein Mensch mehr auf Aker Brygge zu sehen. Der Egertorget wäre vielleicht besser gewesen. Dort waren selbst mitten in der Nacht noch Leute. Doch derjenige, mit dem er sich treffen wollte, hatte die Bedingung gestellt, dass sie nicht zusammen gesehen werden sollten. Jim wusste, dass in Zukunft er die Bedingungen diktieren würde, also war er darauf eingegangen.
Am äußersten Ende des
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