Die Netzhaut
einhüllt. Nicht unseren Körper, sondern unsere Gedanken. Die Seele, wenn man so will. Darin herrscht absoluter Frieden, und man wünscht sich nichts anderes mehr, als an diesem Ort zu sein. Keinem Künstler oder Mystiker ist es je gelungen, dieses Erlebnis zu beschreiben. Es lässt sich nicht in Worte fassen.«
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie ihm hatte sagen wollen. Ständig schweifte er ab, und sie konnte ihn nicht daran hindern.
»Kann man so leben, dass der Tod zum Genuss wird?«, fragte er. »Ihn so vorbereiten, dass er gleichsam zum Höhepunkt des Lebens wird? Stellen Sie sich vor, Sie haben Sex, und der Tod wird zu Ihrem Orgasmus. Sie verschwinden genau in diesem Augenblick, in dieser unendlichen Bewegung. Genau davon wird meine letzte Sendung handeln. Aber nicht so, wie die Leute es erwarten. Man darf nie die Erwartungen der Zuschauer erfüllen, muss ihnen immer einen Schritt voraus sein.«
Er zog ein letztes Mal an seiner Pfeife, ehe er sie in den Aschenbecher zurücklegte.
»Wie stellen Sie sich Ihren eigenen Tod vor, Liss?«
Sie wusste darauf keine Antwort.
»Erzählen Sie mir nicht, dass Sie daran noch nie gedacht haben. Ich sehe Ihnen an, dass Sie der Tod beschäftigt.«
Sollte sie etwa ihre intimsten Gedanken mit diesem halb nackten, maßlosen Prediger teilen? Ihm vom Moor am Morrvann erzählen? Das würde ihr das Gefühl geben, als nähme sie ihn dorthin mit, als wäre er dabei, wenn sie dort lag und zu den Bäumen emporblickte, während der Schnee sich wie ein Teppich um sie herum ausbreitete. Sie besann sich, doch erneut kam er ihr zuvor.
»Sie haben etwas Bestimmtes an sich, Liss. Sie kommen von einem anderen Ort, lassen mich an einen Todesengel denken. Wissen Sie, was Sie für eine Wirkung auf andere Menschen haben?«
Sie richtete sich auf. Sein Blick hatte sich verklärt, als ginge er nach innen.
»Worüber haben Sie mit Mailin gesprochen?«
Berger legte den Kopf in den Nacken. Sein Kimono glitt zur Seite. Er wird sich vor mir entblößen, schoss es Liss durch den Kopf.
»Wir haben immer über Leidenschaft gesprochen. Das hat sie beschäftigt, leidenschaftlich.«
»Die Leidenschaft des Erwachsenen hat sie interessiert«, korrigierte Liss. »In der Begegnung mit Kindern.«
»Auch das. Ihre Schwester war der Meinung, man müsse seine Leidenschaften kontrollieren, um ein zufriedenes Leben zu führen.«
»Während Sie der Meinung sind, man solle ihnen freien Lauf lassen.«
Er stieß ein hohles Lachen aus.
»Nicht ihnen, sondern sich selbst! Lassen Sie sich von ihnen ruhig alle Kraft aus dem Mark saugen. Wollen Sie wirklich fünfzig Jahre Langeweile gegen ein Jahr, eine Minute voller Genuss eintauschen?«
»Sie hören sich wie ein Prediger an.«
»Da haben Sie recht. Ich predige jetzt mehr als damals, als ich vom Altar aus der Bibel vorgelesen habe. Ich predige, weil ich all diese Blicke und diese Verärgerung, aber auch die Neugier genieße. Den Wunsch, sich verführen zu lassen. Woher kommt dieser Wunsch, Liss? Warum sind Sie erneut zu mir gekommen?«
»Weil Sie mich darum gebeten haben. Ich muss wissen, was an dem Abend geschehen ist, als Mailin verschwand.«
Er nahm die Fernbedienung und stellte die Musik ab.
»Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, dass ich Ihren Vater kenne?«
Ihr stand der Mund offen.
»Aus den 70er-Jahren, lange bevor Sie ins Bild kamen. Wir haben uns damals im selben Milieu bewegt. Ich war ein abtrünniger Pfarrer und er ein Künstler, dessen Ehrgeiz größer als sein Talent war.«
Er schien einen Augenblick nachzudenken, ehe er fortfuhr: »Ich denke, dies war der eigentliche Grund, warum Mailin den Kontakt zu mir gesucht hat. Und warum sie an meiner Sendung teilnehmen wollte. Sie wollte hören, was ich über diesen Vater zu sagen habe, der seine Familie verlassen hat.«
»Das glaube ich nicht.«
Berger zuckte die Schultern.
»Das bleibt Ihnen überlassen.«
»Wann … haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Das hat mich Mailin auch gefragt«, seufzte Berger. »Ich bin ihm vor zehn, zwölf Jahren in Amsterdam begegnet, als er diese Ausstellung hatte.«
Die Pfeife war erloschen. Er griff dennoch nach ihr und zog daran. Sie gab einen gurgelnden Laut von sich.
»Er glaubte bestimmt, sich in der internationalen Kunstszene einen Namen machen zu können. Doch im Grunde wusste er ganz genau, dass sein Talent dazu nicht ausreichte.«
Sie saß kerzengerade auf der äußersten Kante ihres Stuhls und konnte den Blick nicht von ihm
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