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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Welten, die sie strikt voneinander getrennt halten musste. Sie gehörten nicht zusammen, konnten nicht gleichzeitig existieren. Dennoch kam diese Frage von Mailin, als Liss sie zum Flughafen fuhr.
    Was soll nur aus dir werden, Liss?
    Das traf sie so hart, dass sie nicht einmal böse wurde. Gar nichts soll aus mir werden, hätte sie antworten können. Das war ihr Triumph, denn von all diesen Dingen hatte sie sich gelöst. Von dem Leben, das sie nie hatte leben wollen.
    Aber Mailin ließ nicht locker.
    Kannst du dich noch an meine Worte erinnern, als ich dich das letzte Mal vom Polizeipräsidium abgeholt habe?
    In den letzten Jahren vor ihrer Abreise hatte sie mehrmals unliebsame Bekanntschaft mit der Polizei gemacht. Mailin lehnte den Irakkrieg ebenso ab wie sie und hatte ein paarmal an den genehmigten Demonstrationen teilgenommen, wo alles ruhig und ordentlich vonstattenging. Aber Liss war das nicht genug. Sie war Mitglied einer Gruppe, die aktiven Widerstand leistete. Sie marschierten zur amerikanischen Botschaft und ließen sich nicht von den Polizisten verscheuchen, sondern warfen mit Flaschen und Steinen nach ihnen. Viele Mitglieder der Gruppe wollten noch weitergehen und massiven bewaffneten Widerstand leisten.
    »Glaubst du etwa, das bringt mehr als friedliche Proteste?«, fragte Mailin. Sie selbst arbeite schließlich auch »auf der anderen Seite«, behauptete sie, und da könne Liss eigentlich ebenso wütend auf sie sein. Auf der anderen Seite, meinte Liss, werde man zu einem Teil der Macht und sei bestenfalls ein nützlicher Idiot. Doch Mailin ließ sich nicht beirren:
    »Wer sich Straßenkämpfe mit der Polizei liefert, sucht sich einen übermächtigen Gegner und will nur bestätigt bekommen, wie schrecklich alles ist.« Liss sagte ein ums andere Mal, Mailin solle sich keine Sorgen machen. Doch Mailin würde sich immer für sie verantwortlich fühlen.
    Auf dem Weg nach Schiphol sagte sie:
    »Ich habe Angst, dass du immer noch dieselben Dinge tust wie damals, als du dich auf die Straße gesetzt und gewartet hast, dass die Polizei euch angreift. Ich habe Angst, dass du jemand findest, der so brutal und rücksichtslos ist, dass du dich von ihm verprügeln lässt.«
    »Du hast ihn doch gar nicht kennengelernt«, protestierte Liss.
    Es war ihr zwar gelungen, Zako von ihr fernzuhalten, doch Mailin hatte lange mit Rikke gesprochen. Und Mailin musste nicht viel erfahren, um sich ein eigenes Bild zu machen.
    »Rikke redet viel, wenn der Tag lang ist«, stellte Liss fest. »Die würde alles tun, um ihn ins Bett zu kriegen.«
    Mailin sagte nichts mehr. Den gesamten Herbst hindurch telefonierten sie einmal pro Woche, doch Mailin erkundigte sich nie nach Zako oder ihrem Leben in Amsterdam. Vermutlich wartete sie, bis Liss von sich aus darauf zu sprechen kam. So war es immer gewesen.
    Was soll nur aus dir werden, Liss?
    *
    Es war Viertel nach vier, als Liss im Bad fertig war. Sie verließ die Wohnung, um etwas zu essen. Hatte sowieso nichts mehr zu Hause. Sie schloss ihr Fahrrad auf, das in einer Ecke unter der Kellertreppe stand, und trug es auf die Straße. Aus der Bäckerei an der Ecke duftete es nach frischem Brot. Im Schaufenster türmten sich Käsekuchen, Brezeln und Berliner. Sie blieb für einen Augenblick stehen und sog den Duft ein, zufrieden damit, dass sie sich nicht verführen ließ, etwas zu kaufen und dem Drang nachzugeben, den Mund mit einem weichen Schmalzgebäck zu füllen.
    Sie folgte dem Haarlemmerdijk eine Weile und bog dann in die Prinsengracht ein. Nachdem der peitschende Regen mehrere Tage aus nördlicher Richtung über das Meer gekommen war, zeigten sich an diesem Dezembernachmittag die ersten Risse in der Wolkendecke, durch die ein scharfes blaues Licht fiel. Der Himmel veränderte sich ständig, es klarte zusehends auf, und aus den Schornsteinen der Hausboote entlang dem Kanal stieg Rauch auf. Plötzlich wurde sie von einem seltsamen, rauschhaften Gefühl ergriffen. Sie trat schneller in die Pedale. Sie hätte stehen bleiben und die Zeit anhalten können, um dieses Bild der verwelkten Blumen in den Töpfen am Ufer, die treibenden Wolken über ihrem Kopf und die Silhouette der Westerkerk, die hoch in den Himmel ragte, für immer in sich aufzunehmen. Eines Tages würde sie vielleicht an diese Fahrradfahrt zurückdenken, an diesen Schimmer, der sie umgab und doch außer Reichweite war. Andererseits konnte sie sich kaum vorstellen, dass sie je alt genug sein würde, um zurückzublicken. Sie hatte

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