Die Netzhaut
Er selbst trug eine gefütterte Lederjacke.
Liss überkreuzte die Beine und beugte sich in Richtung Kamera.
»Doch nicht so«, stöhnte Wim. »Das sieht aus, als ob du aufs Klo musst.«
»Muss ich auch«, entgegnete sie, ohne die Miene zu verziehen.
»Bleib so, ja, schieb die eine Hüfte vor. Jetzt lass den BH -Träger über die Schulter gleiten, ach Shit!«
Obwohl ihre Hose zusammengeknüllt an der Wand lag, hörte sie bereits zum dritten Mal das Handy in ihrer Hosentasche vibrieren. Wim hatte verlangt, dass sie während des Shootings den Ton ausstellte. Ein echter Künstler, dachte sie spöttisch.
»Hallo!«, rief Wim. »Was ist los mit dir? Konzentrier dich, Mensch! Die Hüfte vor. Ich will den Rand deines Slips sehen, nicht deinen Hüftknochen. Komm hier rüber, ja, Hände in die Hüften, jetzt komm! Tu so, als wolltest du mich fertigmachen. Du hast doch gesagt, dass du pissen musst. Dann stell dir vor, du stehst über mir und pisst auf mich rauf. Ich will den Hass in deinem Blick sehen, ja, gut so, das ist endlich der Blick, auf den ich den ganzen Tag gewartet habe. Ich liege zu deinen Füßen und bin dir total ausgeliefert. Na, turnt dich das an?«
Ihr schauderte bei dem Gedanken, dass Wim vor ihr auf dem Boden lag. Dass er seine Lederhose auszog und sein Schwanz in die Höhe zeigte. Und dieser Gedanke sollte sie also scharfmachen. Das Einzige, was sie spürte, war, dass sie dringend aufs Klo musste.
»Gib mir eine Minute«, sagte sie und richtete sich auf.
»Das darf doch nicht wahr sein! Du musst ja eine Blase haben wie eine Maus.« Er wieherte vor Lachen. Es gefiel ihm, über ihren Körper zu sprechen. Am liebsten von dem, was sich innen befand. Aber er war der Beste, mit dem sie bis jetzt zusammengearbeitet hatte. Und er würde sich niemals an sie heranmachen. Obwohl sie keinen Kontakt mehr zu Zako hatte, wusste Wim, dass er geliefert war, wenn er es auch nur einmal wagte, sie anzufassen.
Sie schnappte sich im Vorbeigehen ihre Jeans, ging aufs Klo und stöhnte vor Erleichterung, als sie pinkelte. Bestimmt drei Liter.
Danach zog sie das Handy aus ihrer Tasche. Sie zuckte zusammen, als es in diesem Moment erneut vibrierte, wie ein kleines Tier, das durch ihre Berührung erwachte. Zum dritten Mal an diesem Tag leuchtete die unbekannte Nummer auf dem Display. Sie begann mit 0047. Sie gab sich einen Ruck und ging ran.
»Liss? Hier ist Viljam.«
»Viljam?«, fragte sie unwillig, obwohl sie wusste, wer er war.
»Wir haben uns ja noch nicht kennengelernt«, stellte er fest. »Aber Mailin hat sicher von uns gesprochen.«
Natürlich hatte Mailin von ihm erzählt. Sie waren seit über zwei Jahren ein Paar. Liss hatte seinen Namen schon oft gehört, ohne weiter darüber nachzudenken. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr der Gedanke nicht, dass ihre Schwester mit jemand zusammenlebte.
»Bist du in Amsterdam?«
Er sprach ein vornehmes Norwegisch wie die Leute aus dem Westen Oslos. Liss wusste, dass er Jura studierte und ungefähr in ihrem Alter war.
»Wieso fragst du?« Sie hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen, begriff aber, dass der Anruf dieses Typen einen Grund haben musste. Zum ersten Mal hatte er es um sechs Uhr morgens versucht. Plötzlich fühlte sie sich klamm am ganzen Körper. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Pupillen hatten sich geweitet. Du hast keine Angst, dachte sie. Du kennst keine Angst, Liss Bjerke.
»Hast du heute früh schon mal angerufen? Ist etwas mit Mailin?«
Viljam antwortete nicht gleich. Ihre Beklemmung nahm zu. Sie ließ sich auf die Klobrille sinken. Gestern Nachmittag hatte sie eine SMS von ihrer Schwester bekommen, deren Inhalt sie nicht verstand oder verstehen wollte, und hatte nicht zurückgerufen.
»Ich weiß nicht«, antwortete er schließlich. »Sie wollte sich gestern bei dir melden. Sie wollte dich irgendwas fragen.«
»Was meinst du damit?«
Liss hörte, dass ihre Stimme zornig klang. Sie begann zu zittern. Sie wollte nicht hören, was er jetzt sagen würde. Alles andere konnte sie ertragen. Nur das nicht.
»Sie ist nicht nach Hause gekommen«, sagte er.
Er sprach immer noch zögerlich.
»Sie ist seit gestern Abend verschwunden.«
Dann hat sie wohl Schluss gemacht, dachte Liss und hätte es fast laut ausgesprochen, aber so war Mailin nicht. Sie selbst hätte sich ohne ein Wort aus dem Staub machen können, wenn sie jemand gründlich satthatte, doch nicht Mailin.
»Wir haben uns nicht gestritten«, sagte Viljam, der ihre Gedanken zu erraten
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