Die Netzhaut
schien. Sie hörte ihm an, dass es ihn Mühe kostete, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Unsere Beziehung ist besser als je zuvor.«
Liss las noch einmal die SMS , die sie gestern von ihrer Schwester bekommen hatte:
Bin auf dem Rückweg von der Hütte. Denke immer an dich, wenn ich da draußen bin.
Dann rätselhaft:
Halte dir Mittsommer nächstes Jahr frei. Rufe dich morgen an.
»Mailin war auf der Hütte«, sagte sie. »Vielleicht ist sie noch mal hingefahren.«
In Gedanken sah Liss ihre Schwester vor sich, wie sie auf den Stufen zur Hütte saß und auf den Morrvann hinunterblickte. Das war ihr gemeinsamer Ort. Ihr Vater wollte, dass er ihnen gehörte und niemand sonst. Es war das Einzige, das sie von ihm noch hatten.
»Dort haben wir schon nach ihr geschaut«, sagte Viljam. »Sie war nicht mehr da. Gestern Abend sollte sie an einer Fernsehsendung teilnehmen, aber auch dort hat sie niemand gesehen …«
Zako ist ein Scheißkerl, durchfuhr es sie. Aber so etwas kann er nicht getan haben. Ich bringe ihn um.
»Was soll ich denn tun?«, stieß sie hervor. »Ich bin über tausend Kilometer weit weg.«
Sie fummelte an den Tasten herum, um die Verbindung zu beenden. Sie musste einen Platz finden, an dem sie allein sein konnte.
Der Freund ihrer Schwester atmete schwer.
»Wir haben in der Nacht die Polizei verständigt. Ich muss eine Aussage machen. Wollte aber zuerst hören, ob sie sich bei dir gemeldet hat. Das hatte sie vor.«
Das Licht in dem winzigen Raum, in dem Liss saß, veränderte sich. Es drang in Waschbecken und Spiegel ein und zog sich von ihr zurück.
»Wenn Mailin verschwindet, verschwinde ich auch«, murmelte sie.
Wim sprach in sein Handy, als Liss von der Toilette kam. Er zeigte auf eine Stelle unterhalb des Dachfensters, an der sie offenbar stehen sollte. Sie verharrte in der Türöffnung und ging die Anrufliste ihres Handys durch. Fand keinen Anruf von Mailin. Nur die drei Anrufe von ihrer Mutter, auf die sie nicht reagiert hatte. Sie ließ sich an der rauhen Wand hinabgleiten, die ihrem nackten Rücken einige Kratzer zufügte. Blieb sitzen und kaute auf einer Zigarette herum. Ihre Mutter hatte zwei Nachrichten hinterlassen. Sie hörte die Mailbox ab. Erste Nachricht:
Hallo, Liss, hier ist Mama. Es ist Donnerstagabend,
23:43
Uhr. Kannst du mich bitte anrufen, wenn du diese Nachricht gehört hast. Es ist wichtig
.
Sachlich wie immer. Doch ihre Stimme klang dünn. Liss brachte es kaum übers Herz, sich die zweite Nachricht anzuhören, zwang sich jedoch dazu. Sie stammte von heute Morgen.
Hallo, Liss. Mama noch mal. Ruf mich bitte an. Es geht um Mailin.
Sie hatte den Filter durchgebissen. Wim stand über ihr und redete auf sie ein. Irgendetwas über seine knappe Zeit und Dankbarkeit und dass er nicht billig sei und so weiter. Sie zog sich an und murmelte etwas von einem Unglück. Offenbar glaubte er ihr, denn plötzlich hielt er die Klappe und begnügte sich damit, den Kopf zu schütteln.
»Morgen bist du topfit, und keine Zicken mehr!«, rief er ihr nach, als sie verschwand.
Der Dezembervormittag war durchzogen von eisiger Feuchtigkeit, die die Lijnbaansgracht heraufkroch und von Liss Besitz ergriff. Schicht um Schicht schien sie von flüssigem Eis eingehüllt zu werden. Obwohl der Weg glatt war, radelte sie so schnell wie möglich am Kanal entlang. Eine Frau mit Mantel und breitkrempigem Hut stand rauchend an der Reling eines der Hausboote, drehte sich um und winkte, als Liss vorbeifuhr. Sie trat noch heftiger in die Pedale. Auf einer Kanalbrücke standen zwei alte Männer und angelten. Einer von ihnen trug eine Schirmmütze und spuckte ins Wasser. Plötzlich hielt sie an, lehnte ihr Fahrrad ans Geländer und zog ihr Handy aus der Tasche.
»Ich bin’s, Liss.«
Ein Geräusch am anderen Ende. Erst wusste sie nicht, was es war.
Die Mutter weinte. Liss hatte sie noch nie weinen gehört. Eigentlich konnte sie wieder auflegen. Sie wusste, was sie wissen wollte: Dass Mailin etwas passiert war. Dass etwas anders war als zuvor und nie wieder so sein würde wie früher. Und inmitten all der verschwommenen Dinge, die sie nicht zu berühren wagte, ein Anflug von Erleichterung.
»Wie lange ist sie schon fort?«, hörte sie sich fragen.
Der konfusen Antwort ihrer Mutter konnte sie entnehmen, dass Mailin seit fast vierundzwanzig Stunden verschwunden war. Das stimmte mit dem überein, was ihr Freund gesagt hatte.
»Was sollen wir jetzt machen, Liss?«
Solche Fragen stellte die Mutter sonst
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