Die Netzhaut
war übel. Sie musste aufstehen und sich übergeben.
»Ruf dich nachher wieder an«, brachte sie noch heraus und legte auf.
2
Freitag, 5. Dezember
L iss tappte nackt durch die Wohnung und schaute nach, ob der Efeu Wasser brauchte. Dann machte sie sich einen weiteren Espresso, setzte sich ans Küchenfenster und schaute hinaus. Die Weihnachtsdekoration am Haarlemmerdijk bestand aus Tannengirlanden, an denen kleine Lichter hingen. Wie die Zitzen einer trächtigen Hündin, dachte sie. Ein großer, sechseckiger Stern hing mitten über der Straße. Darin ein Herz mit roten Glühbirnen.
Sie hatte die Wohnung für sich allein. Ein Mädchen aus ihrer Klasse, das sie kaum kannte, hatte gesagt, Liss könne bei ihr wohnen, bis sie etwas anderes gefunden habe. Jetzt war das Mädchen nach Venlo gefahren, um das Wochenende bei ihrer Familie zu verbringen. Das mussten wohlhabende Leute sein, wenn sie genug Geld hatten, ihrer Tochter eine Dreizimmerwohnung im schicken Jordaan – dem ehemaligen Armeleuteviertel, in dem einst die Hugenotten gelebt hatten – zu bezahlen. Hier waren die Fassaden frisch renoviert, und es gab keine Straßenbahnen oder Lastwagen, die Tag und Nacht vorbeidonnerten.
Liss nahm die Kaffeetasse mit ins Bad und stellte sich vor den Spiegel. Sie brauchte sich nicht zu schminken. Ihre Haut war weich und glatt. Doch es tat gut, eine Maske aufzutragen. Wenn sie doch nur ihren ganzen Körper mit einem dünnen Film bedecken könnte … etwas, das sie auflegen konnte, wenn sie aus dem Haus ging, und wieder ablegte, wenn sie zurückkam. Etwas, das die Haut unberührt ließ. Dasselbe mit den Augen. Nicht nur Brauen und Wimpern, nein, den Augapfel selber wollte sie bedecken. Alles bedecken, was sie verraten konnte. Sich Linsen kaufen, obwohl ihre Augen völlig in Ordnung waren. Linsen in einer anderen Farbe, schwarz oder braun.
Ihr Handy gab zwei schwache Signale von sich. Eine Meldung von Mailin:
Hab nichts gehört von dir. Gerade ist etwas passiert, das mit dem zu tun hat, wonach du mich heute Morgen gefragt hast.
Ihre Schwester hatte am Abend zuvor angerufen. Liss war mitten in einem Fotoshooting und sagte, sie rufe zurück, ließ es jedoch bleiben. Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihrer Schwester von der alten Erinnerung erzählt hatte. Eigentlich war mit ihrem Gedächtnis alles in Ordnung. Von Tag zu Tag und Woche zu Woche hatte sie keine Schwierigkeiten, sich zu erinnern. Nur was lange zurücklag, war verschwunden. Andere wie Rikke schienen eine komplette Übersicht über ihr Leben zu haben, von dem Tag an, als sie ihr erstes Paar Schuhe bekamen. Rikke konnte ihre Erinnerung beliebig zurückspulen, wie einen Film, den sie sich ansehen konnte, wann immer sie wollte. Doch Liss funktionierte nicht so. Sie konnte sich noch an die Tage in der Hütte erinnern, doch erst ab dem zehnten oder zwölften Lebensjahr. Jeden Sommer und Winter hatten sie mehrere Wochen im Umland von Oslo verbracht. Die Wochenenden und Ferien. Hatten das Auto bei Bysetermosan abgestellt und von dort aus einen vollbeladenen Schlitten bis nach Vangen gezogen, ehe sie ihn über den schmalen Pfad nach Morrvann transportieren mussten. Oder sie und Mailin gingen von Losby aus mit ihren Skiern los. Als sie alt genug waren, auch ohne die Begleitung eines Erwachsenen. Manchmal abends im Mondlicht, über Geitsjøen und Røirivann. Mit Rucksäcken durch den dunklen Wald. Aufgekratzt und gleichzeitig andächtig angesichts der vollkommenen Stille.
An mehr brauchte sie sich nicht zu erinnern. Mailin glaubte vielleicht, sie habe die vage Erinnerung aus dem Schlafzimmer in Lørenskog deshalb erwähnt, weil sie darunter leide. Doch in dem Fall irrte sie sich. Das wollte Liss ihr sagen, wenn sie das nächste Mal anrief … Sie hatte ihre Schwester vor einem halben Jahr das letzte Mal gesehen. Im Frühsommer hatte Mailin sie in Amsterdam besucht. Liss hatte sie auf eine Konferenz begleitet, auf der es um Missbrauch von Kindern ging. Mailin forschte auf diesem Gebiet und hatte ebenfalls einen kurzen Vortrag gehalten. Danach war sie noch für mehrere Tage geblieben. Liss hatte ihr die Stadt gezeigt, sie zur Hochschule und zu einem Fotostudio mitgenommen, in dem sie mehrmals gearbeitet hatte. Das meiste hielt sie vor ihrer großen Schwester jedoch geheim. Kein Wort über die Partys und das Koks. Außerdem hatte sie darauf geachtet, dass Zako nicht plötzlich auf der Bildfläche erschien. Ihm sollte Mailin keinesfalls begegnen. Das waren zwei
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