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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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längst entschieden, dass sie für ein kurzes Leben geschaffen war. Trieb gern ihre Scherze mit dieser Idee. Dann bezeichnete Rikke sie als Melancholikerin, aber das stimmte nicht, denn bei ihr hielt keine Stimmung so lange an, als dass man sie als das eine oder andere bezeichnen konnte. Dennoch hatte sie eine klare Vorstellung von ihrem eigenen Tod. Sie würde zur Hütte fahren, an den einzigen Ort in Norwegen, den sie vermisste. Hinaus in den Wald, hinunter zum See, der sich Morrvann nannte. Es ist Winter. Der trockene Schnee knirscht unter den Stiefeln. Sie geht an dem Fels vorbei, von dem aus sie im Sommer immer ins Wasser gesprungen sind, und folgt dem Ufer des zugefrorenen Sees. Dann biegt sie ab, hinunter ins Moor. Findet den Platz, an dem sie sich hinlegen wird. Der Himmel zwischen den Baumwipfeln ist klar und schwarz wie farbiges Glas. Einfach loslassen und in die Kälte gleiten, die sie umschließt … Dieser Gedanke tröstete sie, wenn sie Trost brauchte. Sie hatte mit sich selbst verabredet, wie das Ende sein würde. Daraus erwuchs ihre Stärke. Sie spürte einen Anflug von Trauer, wenn sie daran dachte.
     
    Beim Saloon sprang sie vom Fahrrad, stellte es an die Wand und setzte sich an den Tisch, der dem Kanal am nächsten stand. Mehrere Leuchtbuchstaben des Schriftzugs waren erloschen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war.
    Tobi kam mit einem leeren Tablett. Er beugte sich hinunter und ließ sich je einmal auf jede Wange küssen.
    »Kaffeezeit«, gab sie bekannt.
    Sie hätte einen Drink gebrauchen können, etwas, das sie runterbrachte, bestellte jedoch einen doppelten Espresso. Dann zog sie das Handy und eine Schachtel Marlboro aus der Tasche.
    »Hab dich auf einem Plakat in Nieuwe Zijde gesehen«, sagte Tobi und zwinkerte ihr zu. »Sah echt klasse aus.«
    Rikke kam mit dem Taxi.
    »Also hier draußen kann ich nicht sitzen«, sagte sie. »Bin ja nicht so eine Eisprinzessin wie du.«
    Sie fanden drinnen einen freien Tisch.
    »Er will nicht, dass ich mit dir zusammen bin«, sagte sie.
    Liss verdrehte die Augen.
    »Und was willst du tun?«
    Rikke schnappte sich die Speisekarte.
    »Natürlich lasse ich mich nicht auf diese Weise bevormunden. Es gibt schließlich Grenzen.«
    »Hast du mit diesem Escort-Service angefangen?«
    Rikkes Handy gab in diesem Moment tropische Urwaldgeräusche von sich. Sie las die SMS und tippte eine Antwort.
    »Ich hab’s am Wochenende mal ausprobiert«, sagte sie, als sie fertig war. »War so eine Party für steinreiche Geschäftsleute. Ohne die Russen wäre alles okay gewesen.«
    Liss steckte sich eine Zigarette an, und Rauch breitete sich zwischen ihnen aus.
    »Erwarten die, dass du mit ihnen ins Bett gehst?«
    Rikke zögerte.
    »Keiner zwingt dich dazu.«
    Liss beugte sich vor.
    »Ich kenne Zako jetzt seit über einem Jahr«, sagte sie. »Zuerst sollte ich glauben, er sei wirklich verliebt in mich und es ginge ihm um eine echte Beziehung. Mein Gott, hat der sich ins Zeug gelegt. Es dauerte ein bisschen, bis mir klar wurde, was er wirklich wollte.«
    »Du übertreibst«, entgegnete Rikke. »Er überlässt dir die Entscheidung.«
    Liss lachte freudlos.
    »Solange du dich für ihn entscheidest.«
    »Das sagst du nur, weil du sauer auf ihn bist.«
    »Komm schon, Rikke. Er hat dich genau da, wo er dich haben will. Und bald kommst du nicht mehr von ihm los. Schuldest du ihm Geld?«
    »Nicht viel.«
    »Mehr als tausend?«
    Rikke blickte sich um.
    »Weniger als zehntausend … glaube ich.«
    »Herrgott, wie kann man nur so naiv sein!«
    Rikke drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus. Das Geräusch erinnerte an Schritte in pappigem Schnee.
    »Er redet immer noch von dir«, sagte sie. »Er will dich unbedingt zurückhaben. Der scheint wirklich völlig besessen von dir zu sein.«
    Liss begriff zwei Dinge. Zum einen, dass Rikke von Zako geschickt worden war. Zum anderen, dass sie ihm jedes verdammte Wort, das sie sprachen, erzählen würde. Deshalb entgegnete sie:
    »Wahrscheinlich hast du recht. Leute wie Zako gebärden sich wie tollwütige Hunde, wenn sie nicht kriegen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Ich werde ihm sagen müssen, dass er sich mit all seinen Dingen zum Teufel scheren soll.«
    Ohne zu zögern, fügte sie hinzu: »Das ist die einzige Sprache, die er versteht.«

3
    Freitag, 12. Dezember
    I m Atelier war es kalt. Sie hatte das sofort nach ihrer Ankunft gesagt, doch Wim meinte, das müsse so sein. Damit ihre Brustwarzen unter dem dünnen BH hart würden.

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