Die Netzhaut
nie, zumindest nicht ihr. Normalerweise wusste sie auf solche Fragen stets eine Antwort und sagte, was zu tun war. Behielt einen klaren Kopf, war den Geschehnissen immer einen Schritt voraus und bis ins kleinste Detail vorbereitet. Doch jetzt konnte sie nicht mal mehr deutlich sprechen, sondern stammelte immerzu: »Was sollen wir jetzt machen? Was sollen wir jetzt machen?«
»Ich ruf dich später an«, sagte Liss und beendete das Gespräch. Eigentlich war es kein Gespräch, sondern ein klaffendes Loch am helllichten Tag gewesen.
Als ein Auto hupte, kam sie wieder zu sich. Sie radelte die Marnixstraat entlang. Der Verkehr war dichter geworden. Die Temperatur war gesunken, frostiger Atem stand wie eine Wolke vor ihrem Mund. Sie tauchte in sie ein und wieder heraus.
Sie fuhr an einem Jamin-Süßwarengeschäft vorbei, hielt an und ging hinein. Redete mit niemand, wollte nur etwas kaufen. Sie dachte nicht nach, sondern folgte einem fast vergessenen Muster. Kaufte eine Packung Eis, anderthalb Liter, Vanille ohne Nüsse oder Schokolade. Außerdem schnappte sie sich rasch noch eine Pepsi Max und einen Plastiklöffel. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Sie war im Kreis gefahren, war im Vondelpark gewesen und wusste nicht, wo der Tag geblieben war. Spürte nur, dass es in gewisser Weise der letzte war und der erste von etwas anderem. Mit Eis und Pepsi in der Tüte rollte sie die Marnixkade entlang und war plötzlich vor der Wohnung, die sie sich mit Rikke geteilt hatte. Ein diffuser Gedanke: Vielleicht sollte sie Rikke überreden, Zako zu bezirzen und aus ihm herauszukitzeln, ob er etwas über Mailins Verschwinden wusste. Aber zu so etwas war Rikke nicht in der Lage.
Sie passierte den Asphaltplatz, auf dem ein paar Jungen in der Dunkelheit Basketball spielten. Sie riefen ihr nach, machten ihr Angebote. Sie fuhr ein Stück auf die Landzunge hinaus, ließ sich im matten Schein einer Laterne auf eine Parkbank sinken. Dort hatte sie schon oft gesessen. Die Bank war mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Die Kälte kroch ihr den Rücken hinauf. Der Frost half ihr. Er verlangsamte die Gedanken. So konnte sie sich auf das metallene Geräusch konzentrieren, das jedes Mal zu hören war, wenn ein Auto über die Brücke auf der anderen Seite des Kanals fuhr. Konnte die Züge in der Ferne beobachten, die den Hauptbahnhof ansteuerten oder von dort losfuhren.
Da tauchten die Bilder wieder auf. Mailin im hellblauen Pyjama. Sie dreht sich um und schließt die Tür. Schlüpft zu ihr unter die Decke und legt die Arme um sie. Ein Geräusch ist zu hören. Es gehört mit zu diesem Bild. Schritte, die vor der Tür stehen bleiben. Die Klinke, die sich bewegt. Ein lauter werdendes Klopfen, das schließlich zu einem Hämmern wird. Mailin, die sie an sich drückt.
Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas Böses geschieht, Liss.
Plötzlich riss sie das Vanilleeis aus der Tüte und machte den Deckel auf. Es war so hart gefroren, dass der Löffel abbrach. Mit dem Schaft hieb sie auf die harte Fläche ein und stopfte sich die herausgemeißelten Stücke in den Mund. Die Kälte breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie holte ein Feuerzeug hervor und bewegte die Flamme unter dem Boden der Packung hin und her. Bald lösten sich größere Stücke der vanillesüßen Masse. Je mehr sie aß, desto hungriger wurde sie, und benötigte nur ein paar Minuten, um alles aufzuessen. Sie drückte die leere Packung zusammen und stopfte sie auf der anderen Seite des Schotterwegs in einen Mülleimer. Hockte sich zwischen die Büsche und erleichterte sich. Sie hatte immer noch den Vanillegeschmack im Mund. Danach fühlte sie sich nicht besser. Irgendwo in ihrem Magen war noch etwas, das sie nicht loswurde. Sie blieb stehen und lehnte den Kopf an einen Baum. Vielleicht war es eine Eiche, denn die Rinde war voller Scharten, gegen die sie sich drücken konnte.
Ihre Gedanken trieben nicht mehr ziellos umher. Sie sammelten sich und ließen sich sorgsam voneinander trennen. Mailin verschwunden. Mailin finden, bevor es zu spät ist. Zako hat jemand beauftragt, das Foto von ihr zu machen … Liss schwang sich mit Mühe aufs Fahrrad. Sie wusste, was sie nun tun musste. Sie fror immer noch. Die Kälte, die aus dem Bauch kam, hielt die Gedanken in Schach. Sie radelte die Lijnbaansgracht entlang. Es musste nach Mitternacht sein. Die Hausboote lagen im Dunkeln. Einige Schwäne trieben auf dem dunklen Kanal.
Auch sein Küchenfenster, das auf die Bloemstraat hinausging, lag im
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