Die Netzhaut
es dir schlechtgeht, Liss. Niemand auf der Welt ist mir so wichtig wie du.
Sie zog an der schweren Tür, doch sie bewegte sich nicht. Das ist ein Zeichen, sagte sie sich. Sie wollen dich nicht reinlassen. Doch die Nebentür ließ sich öffnen, worauf sie die große Eingangshalle betrat.
Eine Frau in ihrem Alter saß an der Rezeption. Sie trug die Uniform eines Sicherheitsdienstes. Zwei dünne, bleiche Zöpfe hingen ihr über den Hemdkragen. Das Schminken hatte sie offenbar in einem Kindertheater gelernt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mürrisch.
Liss blickte zur Galerie mit den vielen Treppen hinauf. Die jeweiligen Abteilungen waren offenbar in verschiedenen Farben gehalten, in Rot, Blau und Gelb.
»Ich bin wegen meiner Schwester gekommen. Sie ist verschwunden.«
»Aha«, entgegnete die Blonde mit unbeweglichem Gesichtsausdruck. »Wollen Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?«
Liss schüttelte den Kopf.
»Sie suchen bereits seit fünf Tagen nach ihr.«
Sie wollte dieser Person, die gelangweilt Kaugummi kaute, nicht mehr erzählen. »Die zuständigen Beamten sind doch bestimmt interessiert daran, mit mir zu sprechen.«
»Wie heißt Ihre Schwester?«
»Mailin. Mailin Synnøve Bjerke.«
»Nehmen Sie da vorne Platz und warten Sie.«
Ein paar Minuten später wurde Liss wieder an die Rezeption gewunken. »Von den zuständigen Beamten kann jetzt niemand mit Ihnen reden. Schreiben Sie Namen und Telefonnummer auf diesen Zettel, dann werden sie sich bei Ihnen melden.«
3
Montag, 15. Dezember
D er Taxifahrer gab Liss die Kreditkarte zurück, mit der sie in letzter Zeit immer gezahlt hatte. Sie wusste nicht, wie hoch sie sie noch belasten konnte, hatte aber keine Lust, es herauszufinden. Sie stieg aus und stand plötzlich im Schneematsch. Seit gestern Abend waren die Temperaturen gestiegen. Den Großteil der Nacht hatte sie an einem Hotelfenster am Parkveien verbracht und hinaus in den Regen geschaut.
Sie stakste die Auffahrt hinauf und versuchte, die vielen Pfützen zu umgehen. Es war ungefähr vier Jahre her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war.
Unmittelbar nachdem sie geklingelt hatte, wurde die Tür vorsichtig geöffnet, und Tages Kopf kam zum Vorschein.
»Liss!«, rief er aus und griff sich an die Stirn. Er hatte sich inzwischen einen grauen, dichten Vollbart wachsen lassen. Auf seinem Kopf waren kaum noch Haare. Und seine Augen hinter den runden Brillengläsern waren kleiner geworden. Sie fühlte sich fast erleichtert, als sie ihn sah. Vielleicht weil ihr nicht die Mutter geöffnet hatte.
Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle er sie umarmen, doch glücklicherweise ließ er es bleiben.
»Wie in aller Welt … aber komm doch erst mal rein.« Er rief ins Innere des Hauses: »Ragnhild!«
Tage sprach ihren Namen immer noch auf diese seltsame schwedische Weise aus. Daran hatten sie sich nie gewöhnen können. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, was sie an dem Tag vor fünfzehn Jahren, als er das erste Mal zu ihnen nach Hause gekommen war, gedacht hatte: Jemand, der den Namen meiner Mutter so ausspricht, wird auf keinen Fall bei uns einziehen. Geändert hatte dies allerdings nichts.
Da Tage keine Antwort erhielt, rief er noch mal und fügte hinzu: »Liss ist da!«
Liss hörte ein Geräusch aus dem Wohnzimmer. Im nächsten Moment stand ihre Mutter in der Tür. Sie war ungeschminkt und sah sehr mitgenommen aus. Ihr starrer Blick ging ins Leere.
»Liss«, murmelte sie und blieb stehen.
Liss zog rasch ihre Stiefeletten aus und trat über die Schwelle. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, ihre Mutter zu umarmen, doch nun wurde nichts daraus.
»Du bist hier.« Die Mutter kam zu ihr und fasste sie am Arm, als wolle sie sich versichern, dass sie nicht träumte. »Da siehst du’s, Tage. Sie ist gekommen.«
»Ich habe auch nie etwas anderes behauptet«, beteuerte Tage und blickte sich im Flur um. »Wo ist dein Gepäck?«
»Welches Gepäck?«
»Na, ein Koffer oder eine Tasche.«
»Ich bin einfach so gekommen.«
»Ach so …« Tage war wissenschaftlicher Assistent an der soziologischen Fakultät, falls er nicht inzwischen die Professorenstelle bekleidete, um die er sich bestimmt hundert Mal beworben hatte. Er stellte gerne vorschnelle Behauptungen auf, ohne sich zu vergewissern, ob sie auch zutrafen.
Sie saßen im Wohnzimmer. Es wurde nicht viel gesprochen. Liss sagte irgendetwas darüber, dass sie es nicht ausgehalten habe, untätig in Amsterdam zu sitzen. Ihre Mutter
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