Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
Vom Netzwerk:
ist er natürlich nicht der Richtige für Mailin, aber du weißt ja, wie das ist …«
    Er blickte zur Tür, durch die seine Frau eben verschwunden war.
    »Ragnhild meint, sie habe so ein komisches
Gefühl
bei ihm. Sie kommt einfach nicht an ihn ran.«
    Liss spürte, wie sich eine alte Irritation wieder bemerkbar machte. In den Augen ihrer Mutter war keiner von Mailins Freunden je gut genug für sie gewesen. Zum einen hatte sie immer betont, dass ihre Töchter sich frei und selbständig entscheiden müssten, zum anderen aber keinen Zweifel daran gelassen, was sie ihrer Meinung nach tun sollten. Und in der Regel gab sie erst Ruhe, wenn sie ihren Willen bekommen hatte.
    »Glaubt die Polizei denn, dass Viljam … etwas mit der Sache zu tun haben könnte?«
    Tage wiegte den Oberkörper vor und zurück.
    »Sie haben ihn zwei Mal vernommen. An dem Nachmittag, an dem Mailin verschwand, war er mit anderen Studenten zusammen. Ich habe ihn selbst abgeholt, weil er sich mit uns zusammen die Talkshow ansehen wollte. Nach der Sendung wollte Mailin zu uns stoßen … Viljam und ich sind die ganze Nacht herumgefahren und haben nach ihr gesucht. Am nächsten Morgen sind wir noch zur Hütte rauf, wir dachten, vielleicht ist sie dort. Viljam ist genauso am Boden zerstört wie wir.«
    »Warum seid ihr überhaupt zur Hütte gefahren? Hast du nicht gesagt, ihr Auto hätte in der Stadt gestanden?«
    »Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wir mussten doch alles versuchen.«
    »Und wenn sie nun einfach verreist ist?«
    Sie hörte selbst, wie unwahrscheinlich das klang, doch sie musste diese Frage stellen, um ihr Gespräch irgendwie am Laufen zu halten. Um zu verhindern, dass sie einfach in dieses schwarze Loch gezogen wurde und verschwand … Natürlich war Mailin nicht einfach verreist, ohne jemand Bescheid zu sagen. Es passte nicht zu ihr, andere Menschen im Ungewissen zu lassen. Liss wäre es zuzutrauen, dass sie einfach abhaute. Doch Mailin wollte immer, dass sich andere auf sie verlassen konnten.
    »Wir haben uns alle möglichen Fragen gestellt«, sagte Tage in diesem trägen Ton, der stets in seiner Stimme lag und vielleicht Ausdruck einer gewissen inneren Ruhe war. »Aber wo sollte sie hingefahren sein und warum? Ragnhild hat sogar in Kanada angerufen, um deinen Vater zu fragen, ob Mailin bei ihm aufgetaucht ist. Eigentlich ein absurder Gedanke, aber man kann ja nie wissen …«
    Ragnhild hatte ihren Vater angerufen. Liss wusste, dass sie seit vielen Jahren – fünfzehn, zwanzig? – nicht mehr miteinander gesprochen hatten.
    »Was hat er gesagt?«, wollte sie wissen.
    »Sie hat ihn nicht erreicht. Der ist wohl irgendwo unterwegs.« Tage sagte das so beiläufig wie möglich. Er war stets klug genug gewesen, jede versteckte Andeutung zu vermeiden, die sich auch nur im mindesten nach einer Kritik ihres Vaters anhören könnte.
    Plötzlich fühlte sich Liss völlig kraftlos.
    Sie ging in das Zimmer, das einst Mailin bewohnt hatte, und legte sich auf ihr Bett. Sie war zu erschöpft, um zu schlafen. Der Puls schlug ihr bis zum Hals. Seit sie mit der Schule fertig war, hatte sie nicht mehr in diesem Haus übernachtet. Immer wieder musste sie aufstehen, um die paar Schritte zwischen Tür und Fenster hin und her zugehen. Sie machte das Licht an und setzte sich frierend an den Schreibtisch. Auf dem Regal darüber standen immer noch die alten Fotos. Ein Bild von Mailin mit der roten Abiturientenmütze. Die blonden Haare und ihre hellen Augen, die denen ihrer Mutter glichen, aber fröhlicher aussahen. Ein weiteres Bild von Mailin und ihr selbst. Sie musste damals ungefähr acht Jahre alt gewesen sein, demnach wäre Mailin also zwölf gewesen. Sie stehen auf dem Fels unterhalb der Hütte, von dem aus sie immer kopfüber in das Wasser des Morrvann gesprungen waren. Liss rudert mit den Armen. Es sieht aus, als würde sie gerade ihr Gleichgewicht verlieren. Mailin hat die Arme um sie geschlungen und hält sie fest.
    Sie nahm das Foto und studierte jedes Detail. Die Tanne neben dem Fels. Das Licht, das eine Ellipse auf das Wasser warf. Mailins erschrockenes Gesicht.
Was soll nur aus dir werden, Liss?
    Sie konnte sich nicht daran erinnern, wer dieses Foto gemacht hatte, wusste aber noch genau, wie es sich anfühlte, zu schwanken und festgehalten zu werden. »Ich werde nie jemand so nah sein wie dir«, murmelte sie. »Ich muss dich finden, Mailin.«

4
    Dienstag, 16. Dezember
    S ie nahm die U-Bahn vom Jernbanetorget. Zwischen Sitz und Wand

Weitere Kostenlose Bücher