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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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zu stecken.
    Sie fand die Adresse. Es war ein großer funktionalistischer Bungalow. Der Name am Briefkasten stimmte. Die roten Steinplatten der Auffahrt waren so glatt, dass sie wie eine alte Frau nur mit winzigen Schritten vorankam. Sie klingelte. Obwohl sie bereits von drinnen Geräusche hörte, drückte sie den Klingelknopf hastig ein zweites Mal. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, worauf der Kopf einer Frau erschien. Dunkle Haare, die im Nacken zusammengefasst waren, sorgfältig geschminkt. Sie mochte vielleicht Mitte dreißig sein, etwa zehn Jahre älter als Liss.
    »Judith van Ravens?«
    Die Frau antwortete mit einem verhaltenen Lächeln. Liss sah, dass sie ein Bündel im Arm hielt, das in eine Häkeldecke gewickelt war.
    »Ich muss mit Ihnen reden«, fuhr sie auf Niederländisch fort und zeigte in den Flur.
    Die Augen der Frau nahmen einen feindseligen Ausdruck an.
    »In welcher Angelegenheit?«
    Liss versuchte, sich zu beherrschen. Sie fror an den Zehen. Eine Kälte, die ihr den Rücken bis zum Haaransatz hinaufkroch. Sie hatte seit über vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Sie hatte einen Mann getötet. Doch in ihrem Kopf hatten nur zwei Gedanken Platz: Mailin ist verschwunden. Ich muss Mailin finden.
    »Wenn ich für einen Moment hereinkommen dürfte, dann werde ich Ihnen alles erklären.«
    Die Frau schüttelte energisch den Kopf, drückte das Bündel fester an sich und war drauf und dran, die Tür wieder zu schließen. Liss setzte ihren Fuß in den Spalt, zog rasch das Foto ihrer Schwester aus der Tasche und hielt es der fremden Frau unter die Nase, woraufhin diese nervös zwinkerte und den Türknauf losließ. Liss schob die Tür auf und drängte sich an ihr vorbei ins Haus.
     
    Das große Wohnzimmer machte einen fast unbewohnten Eindruck. Eine Sitzgruppe, wahrscheinlich von Ikea, in einer Ecke ein Esstisch, ein großes, blasses Ölgemälde an der Wand.
    »Wir wohnen hier nur vorübergehend«, entschuldigte sich die Frau. »Mein Mann arbeitet für Statoil in Stavanger, aber da will ich nicht wohnen.«
    Ihre Unsicherheit machte sie offenbar gesprächig. Oder sie hatte das Wort »Statoil« fallenlassen, um dem ungebetenen Gast zu zeigen, welch mächtigen Konzern sie im Rücken hatte. Sie drückte immer noch das Bündel an ihre Schulter. Eine Kinderwagentasche stand auf dem Sofa, aber vielleicht wagte sie nicht, das schlafende Kind dort hineinzulegen.
    Liss blieb mitten im Zimmer stehen. Die Frau machte keine Anstalten, ihr einen Platz anzubieten.
    »Was ist mit dem Foto?«
    »Das haben Sie aufgenommen«, stellte Liss fest und zwang sich, ruhig zu bleiben.
    »Habe ich das?«
    »Es wurde von Ihrem Handy an einen Empfänger in Amsterdam geschickt.«
    Die Frau hielt die Luft an, und Liss machte sich bereit. Jederzeit konnte ein hünenhafter Ehemann hier auftauchen, um sie hinauszuwerfen. Vielleicht würde er auch die Polizei rufen. Doch Liss würde sich festbeißen und dieses Haus erst wieder verlassen, wenn sie erfahren hatte, warum die Fotos von Mailin gemacht worden waren. Für einen Augenblick schoss ihr die Idee durch den Kopf, das kleine Bündel an sich zu reißen und damit zu drohen, den kleinen, dunklen Kopf gegen die Wand zu schleudern, falls ihr die Frau nicht erzählte, was sie wusste.
    Es schien, als würde diese bedrohliche Fantasie aus ihrem tiefsten Unterbewusstsein nach oben dringen und Judith van Ravens in irgendeiner Form erreichen, denn plötzlich nahm sie die Kindertasche und ging zur Tür.
    »Ich lege die Kleine nur eben hin. Bin gleich wieder da.«
    Liss fragte sich, ob sie die Gelegenheit nutzen würde, um ihren Mann, ihre Nachbarn oder die Polizei anzurufen, doch nichts dergleichen geschah. Liss wusste, dass sie am richtigen Ort war.
    Kurz darauf kam Judith van Ravens ins Wohnzimmer zurück.
    »Es stimmt!«, brach es aus ihr heraus, ehe Liss etwas sagen konnte. »Ich habe dieses Foto gemacht, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, in mein Haus einzudringen. Ich muss meine Tochter gleich stillen und wickeln. Ich habe noch hundert andere Dinge zu tun. Außerdem erwarte ich Gäste …«
    »Die Frau, von der Sie das Foto gemacht haben, ist verschwunden.«
    Judith van Ravens starrte sie an.
    »Wie meinen Sie das?«
    Liss zog die Zeitung aus dem Flugzeug aus der Tasche und legte sie aufgeschlagen auf den Tisch. Judith van Ravens las, blickte sie an und las weiter.
    »Woher wissen Sie …?«
    »Meine Schwester«, antwortete Liss tonlos. »Meine Schwester ist verschwunden.

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