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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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nickte meist mit dem Kopf, schien aber nicht richtig zuzuhören. Sie wirkte noch geistesabwesender als bei Liss’ Ankunft. Wahrscheinlich hatte sie irgendwelche Beruhigungspillen eingenommen, was nicht zu ihr passte, denn eigentlich nahm sie nie irgendwelche Medikamente. Doch nun waren ihre Lider schwer und ihre Pupillen klein.
    Tage verzog sich in die Küche, um ein paar Reste aufzuwärmen, obwohl Liss zunächst dankend abgelehnt hatte. Er wollte die Mahlzeit im Wohnzimmer servieren, doch sie zog es vor, am Küchentisch zu essen. Er setzte sich zu ihr. Die Mutter blieb auf dem Sofa sitzen. Liss hörte, wie sie in einer Zeitschrift blätterte.
    »Wie lange bleibst du?«, wollte Tage wissen.
    Als ob sie darauf eine Antwort wusste.
    »Kommt drauf an.«
    Er nickte und wusste sicherlich, was sie damit meinte.
    »Erzähl mir alles, was du über Mailin weißt«, bat sie ihn.
    Seit ihrer Ankunft war es das erste Mal, dass sie sich traute, ihren Namen auszusprechen. In dieser Küche, in der sie und Mailin von frühester Kindheit an so oft zusammengesessen hatten. Obwohl Liss nicht mehr unterscheiden konnte, woran sie sich erinnerte und was sie von alten Fotos kannte, sah sie vor sich, wie sie an diesem Kieferntisch gesessen, gemeinsam gefrühstückt und zu Abend gegessen, gebastelt und gespielt hatten.
    »Sie ist am Donnerstag verschwunden, nicht wahr?«
    Tage rieb sich die Nasenspitze.
    »Soviel wir wissen, hat sie seit Mittwoch keiner mehr gesehen.«
    »Was meinst du damit?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Keine Ahnung, Liss. Ich traue mir überhaupt keine Meinung mehr zu.«
    »Ich muss alles wissen.«
    Ihre Stimme hörte sich verbissen an. Tage nahm seine Brille ab und reinigte sie mit dem Taschentuch. Er bekam das Fett, das aus der Pfanne gespritzt war, nicht von den Gläsern ab. Es bildete einen dünnen Film. Er hauchte die Gläser an, sodass sie beschlugen, versuchte es erneut, doch ohne Erfolg.
    »Sie ist zur Hütte gefahren«, sagte er, nachdem er aufgegeben und die Brille wieder aufgesetzt hatte. »Das war am Mittwochabend. Du weißt ja, dass sie ständig dorthin fährt, wenn sie an schwierigen Projekten arbeitet.«
    Das wusste Liss.
    »Sie hat dort übernachtet und ist offenbar am nächsten Nachmittag wieder weggefahren. Leute, die zu diesem Café im Wald …«
    »Vangen«, sagte Liss.
    »Genau, Vangen. Also Leute, die ihr Auto an dem Parkplatz in der Nähe …«
    »Bysetermosan.«
    »Sie haben das Auto am Mittwoch und am Morgen danach gesehen … Am Nachmittag war es dann verschwunden.«
    »Sie ist doch wohl nicht noch woanders hingefahren?«
    Mit einem Mal hatte sie vor Augen, wie Mailin, eingeklemmt in einem Autowrack, in einem tiefen Graben lag, oder unterhalb eines Bergabhangs. Liss suchte in Gedanken den Weg ab, den sie so gut kannte.
    »Wir haben ihr Auto gefunden«, erklärte Tage. »Es stand in der Welhavens gate, wo sie ihre Praxis hat. Sie muss am Donnerstagnachmittag dorthin gefahren sein. Sie wollte ja abends an der Talkshow teilnehmen.«
    »Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen. Bei Berger, der alten Rocklegende, der jetzt diese Sendung macht.«
    Tage räusperte sich.
    »Keiner von uns hat verstanden, was sie da wollte. Der Mann ist zweifellos ein geschmackloser Dreckskerl.«
    Liss zuckte die Schultern.
    »Der will doch nur ein paar Tabus brechen. Ist das denn so schlimm?«
    »Liebe Liss. Berger und seine Jünger sind die Schmarotzer der freien Gedanken«, erklärte Tage. »Aber niemand traut sich, das laut zu sagen. Die Angst, als politisch korrekter Spießer zu gelten, ist eine effektivere Zensur, als sie eine Diktatur je ausüben könnte.«
    Offensichtlich hatte sie ihn auf eines seiner Lieblingsthemen angesprochen. Er ging zum Kühlschrank, nahm ein Bier heraus und teilte es auf zwei Gläser auf.
    »Unter dem Vorwand, mit alten Vorurteilen aufzuräumen, etabliert er neue, die noch viel schlimmer sind.«
    Tage wirkte für seine Verhältnisse außerordentlich aggressiv. Zwar konnte er wortkarg und mürrisch sein, hatte jedoch stets Schwierigkeiten gehabt, Wut offen zu zeigen.
    »Das Schlimmste daran ist doch, dass er von den jungen Leuten regelrecht verehrt wird. Selbst die reflektiertesten unter meinen Studenten betrachten ihn als Revolutionär. Und jetzt denkst du bestimmt, dass ich ein alter Sack bin, der sich neuen Gedanken verschließt oder, was noch schlimmer wäre, der keinen Humor hat.«
    Eigentlich hatte sie ihn schon immer als »alten Sack« betrachtet, wenngleich sie ihm einen

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