Die Netzhaut
eigenwilligen, intellektuellen Humor zubilligte. Mit seinen Wortspielen konnte er sie manchmal sogar zum Lachen bringen. Er war überhaupt ein anständiger Mensch. Nur hatte sie ihn eben nie gemocht.
»Berger kokettiert mit Heroinabhängigkeit, Pädophilie und Satanismus. Er tut so, als könne man in diesen Dingen dieser oder jener Ansicht sein. Aber ich sage meinen Studenten, dass man eine große Verantwortung hat, wenn man öffentliche Meinungsmache betreibt. Öffentliche Handlungen ziehen andere Konsequenzen nach sich als die Frage, welche Klamotten ich heute anziehe.«
»Trotzdem wollte Mailin an seiner Talkshow teilnehmen«, entgegnete Liss.
Tage seufzte.
»Sie hatte sicher die besten Absichten. Doch Berger macht die Leute glauben, man dürfe ruhig ein verantwortungsloser Mistkerl sein, solange man sein Publikum damit unterhält. Und ich glaube nicht, dass Mailin daran etwas hätte ändern können.«
Er schien sich eine lange aufgestaute Verärgerung von der Seele zu reden. Doch wer sich von der Privatmeinung eines alten, verlebten Rockers provozieren ließ, musste schon ziemlich naiv sein, dachte Liss, oder zumindest Norweger. In den Niederlanden hätte eine solche Talkshow keine große Resonanz.
Sie ließ ihn weiterreden, während sie ein paar Bissen aß. Dann unterbrach sie ihn:
»Du sagtest, dass ihr Auto unmittelbar vor ihrer Praxis stand?«
Tage strich sich durch den Bart.
»Anscheinend ist sie noch mal dort vorbeigefahren, bevor sie zum Fernsehstudio wollte. Wir wollten uns die Talkshow ansehen, aber als die Sendung anfing, war sie nicht mit dabei. Und der Scheißkerl machte auch noch Witze auf ihre Kosten. Dass sie wohl doch zu feige sei und einen Rückzieher gemacht habe und ähnliche Unverschämtheiten.«
»Und seit diesem Nachmittag hat sie niemand mehr gesehen?«
Liss hörte, wie ihre Mutter vom Sofa aufstand. Kurz darauf kam sie zu ihnen in die Küche geschlurft.
»So … hast du etwas zu essen bekommen«, sagte sie tonlos und legte Liss die Hand auf die Schulter. »Ich leg mich ein bisschen hin.«
Damit verschwand sie aus der Küche und schleppte sich die Treppe hinauf.
Tage blickte ihr nach.
»Ich weiß nicht, ob sie es verkraftet, sollte Mailin wirklich etwas passiert sein.«
Wirklich etwas passiert!
Liss wäre fast in die Luft gegangen. Es waren mindestens vier Tage vergangen, seit Mailin das letzte Mal gesehen worden war. Sie nahm sich zusammen, stocherte lustlos in ihren Spaghetti und aß ein wenig von der Fleischsoße. Doch sie schmeckte nichts. Sie hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen und nicht den geringsten Hunger. Sie leerte ihr Bierglas.
»Was ist mit der Polizei?«
Tage schenkte ihr nach.
»Die haben uns Löcher in den Bauch gefragt, wollten alles wissen. Ob sie Depressionen hatte, früher schon mal verschwunden war und so weiter. Wie ihr Verhältnis zu Viljam ist.«
»Und, was glaubst du?«
Er kratzte sich mit einem Finger seinen mit Leberflecken übersäten Kopf.
»Was soll man schon glauben? Möglich ist alles … wir stehen doch alle unter Schock, Liss, genau wie du.«
Stand sie unter Schock? Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Zustand ständig veränderte. Sie war nicht richtig bei sich. Dachte hin und wieder, es werde sie in Stücke reißen. Dann verspürte sie Erleichterung bei dem Gedanken, dass irgendwann ohnehin alles ein Ende nahm. Und im nächsten Moment wurde sie in ein riesiges schwarzes Loch gezogen und fühlte sich vollkommen gelähmt. Sie hatte jemand umgebracht. In ihrer Jackentasche war das Foto von Mailin. Sie konnte es vor Tage auf den Tisch werfen: Nimm mich mit zur Polizei. Sperrt mich ein. Aber ich schaffe es nicht, darüber zu reden.
Er tätschelte ihr sanft den Arm.
»Klar, dass die Polizei in alle Richtungen ermitteln muss. In einer Beziehung kann es manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen kommen und …« Er hielt inne und räusperte sich. »Bist du Viljam eigentlich schon mal begegnet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Vor drei Tagen habe ich zum ersten Mal mit ihm telefoniert, das ist alles.«
Mailin hatte nie viel von Viljam erzählt, aber bei früheren Beziehungen war das auch nicht anders gewesen, und Liss hatte nie viel nachgefragt. Sie erinnerte sich an die SMS , die sie bekommen hatte:
Halte dir Mittsommer nächstes Jahr frei.
»Er studiert doch Jura, oder?«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Tage. »Sie sind schon über zwei Jahre zusammen. Scheint ein sympathischer junger Mann zu sein. In Ragnhilds Augen
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