Die Netzhaut
Und ich werde Sie erst in Ruhe lassen, nachdem Sie mir alles über diese Fotos erzählt haben. Danach werde ich zur Polizei gehen.«
»Zur Polizei? Muss das sein?«
»Das entscheide ich selbst«, erklärte Liss.
Judith van Ravens stellte sich ans Fenster.
»Ich habe nichts Unrechtes getan«, sagte sie und klang plötzlich wie ein Schulkind, das zum Direktor zitiert worden war, weil es etwas ausgefressen hatte. »Ich will nur, dass mein Mann nichts davon erfährt …«
Sie blickte verstohlen zu Liss hinüber. »Es stimmt, dass ich ein paar Fotos von dieser Frau an einen Bekannten in Amsterdam geschickt habe.«
»Zako.«
»Sie kennen Zako?«
Liss zuckte die Schultern.
»Warum haben Sie das getan?«
Judith van Ravens strich sich übers Gesicht.
»Ich … ich kenne Zako von früher … das ist viele Jahre her. Wir sind Freunde.«
Liss verkniff sich die Bemerkung, dass Zako keine weiblichen Freunde hatte. In diesem Moment sah sie ihn vor sich, wie er auf dem Sofa lag, sein Mund mit Erbrochenem verschmiert. Sie hörte die Stimme von Wouters, der darauf wartete, dass sie ihm erklärte, was in jener Nacht passiert war.
»Ab und zu telefonieren wir«, fuhr Judith van Ravens fort. »Und wenn ich in Amsterdam bin, dann treffen wir uns manchmal.«
Sie war schlank und relativ klein, mit runden Hüften und nicht allzu großen Brüsten, obwohl sie stillte. Nicht gerade Zakos Typ, dachte Liss.
»Und davon darf Ihr Mann nichts erfahren«, sagte Liss mit einem Anflug von Verachtung.
»Eigentlich passiert nichts zwischen uns, wenn wir uns treffen«, beteuerte Judith van Ravens. »So gut wie nichts«, korrigierte sie sich. »Aber mein Mann muss nicht alles wissen. Er ist sowieso von Grund auf misstrauisch.«
»Was ist mit dem Foto?«
Judith van Ravens strich sich erneut über das Gesicht und dann über die glatten Haare.
»Zako hat mich vor ein paar Wochen angerufen und um einen Gefallen gebeten. Er wollte eine Freundin überraschen, nur so zum Spaß, sagte er. Vielleicht waren Sie das ja.«
»Reden Sie weiter!«
»Ich sollte ein paar Fotos von einer Frau machen, ohne dass sie es bemerkt. Ich bekam ihren Namen und die Adresse eines Büros. Ich habe dann im Auto gewartet, bis sie aus der Tür kam, und bin ihr zu einer Straßenbahnhaltestelle gefolgt. Sie wurde von einem Mann begleitet … aber es sollte wirklich alles nur ein Scherz sein!«
»Wann war das?«
Judith van Ravens schien nachzudenken.
»Ungefähr vor drei Wochen, Ende des letzten Monats. Wir sind eine Woche darauf nach Houston geflogen.«
Drei Wochen. Das stimmte mit dem Datum überein, das Liss sich in Zakos Wohnung notiert hatte.
»Wie lange waren Sie in den USA ?«
»Wir sind Freitagabend zurückgekommen. Ich spüre immer noch den Jetlag.« Judith van Ravens schloss die Augen. »Ich war ihm einen Gefallen schuldig. Dass diese Frau, Ihre Schwester, verschwunden ist, kann nicht das Geringste mit diesen Fotos zu tun haben. Zako und ich waren gemeinsam auf der Filmhochschule. Er ist eben ein besonderer Typ, der oft merkwürdige Ideen hat, aber mit Entführungen oder so was hat er mit Sicherheit nichts zu tun.«
»Zako ist tot.«
Die Frau am Fenster erstarrte und wurde kreidebleich.
»Ein Unglück«, fuhr Liss fort. Es tröstete sie, das auszusprechen. Wenn sie es oft genug tat, würde sie irgendwann selbst daran glauben.
»Wie …?«
Liss setzte sich in einen Sessel der Sitzgruppe.
»Eine Überdosis, offenbar eine Mischung verschiedener Drogen. Er schlief ein, musste sich übergeben und ist daran erstickt.«
Judith van Ravens ließ sich auf das Sofa sinken.
»Aber das kann doch nicht sein, nicht Zako … Er hat immer alles unter Kontrolle.«
Liss entgegnete nichts. Für eine Weile saßen sie beide schweigend da. In einem anderen Zimmer klingelte ein Handy. Judith van Ravens reagierte nicht. Vornübergebeugt, die Beine übereinandergeschlagen, starrte sie auf die Tischplatte. Plötzlich sagte sie:
»Wir müssen zur Polizei gehen. Es wird die Hölle für mich, aber es muss sein.«
»Warum?«
Sie hob den Blick.
»Weil das mit den Fotos kein Zufall sein kann. Vielleicht hat sich Zako da auf irgendwas eingelassen, und jemand wollte es wie einen Unfall aussehen las…«
»Sie haben bestimmt recht, dass es ein Scherz sein sollte«, unterbrach Liss sie.
Judith van Ravens schaute überrascht auf.
»Meinen Sie wirklich?«
Liss nickte entschieden.
»Ja, nachdem ich mit Ihnen gesprochen habe, ist die Sache für mich klar.«
»Hatten
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