Die Netzhaut
Sie … ein Verhältnis?«
Liss überhörte die Frage.
»Zako wollte mich bestimmt überraschen. Das hat nichts zu bedeuten. Dass meine Schwester verschwunden ist, nachdem Sie die Fotos gemacht haben, kann nur ein Zufall sein.«
Das verschaffte ihr einen Moment der Erleichterung. Was immer Mailin auch zugestoßen sein mochte, es hatte nichts mit ihr zu tun. Doch nach wenigen Sekunden kehrten die Zweifel zurück.
»Haben Sie die Fotos noch?«
Judith van Ravens stand auf, ging ins Nebenzimmer und kam mit einem Handy zurück.
»Ich habe sie nicht gelöscht«, sagte sie und zeigte Liss die MMS . »Ich hatte die Sache schon ganz vergessen.«
In diesem Moment begann das Baby in einem anderen Zimmer zu schreien.
»Sie meinen also, es ist nicht nötig, dass ich zur Polizei gehe?«
Liss wartete ein paar Sekunden, ehe sie antwortete: »Soweit ich weiß, gibt es niemand, der daran zweifelt, dass es sich bei Zakos Tod um einen Unfall gehandelt hat.«
2
S ie musste zu Fuß gehen und folgte dem Kongsveien in Richtung Stadt. Es hatte kräftig geschneit, und die Bürgersteige waren noch nicht geräumt. Ihre dünnen Stiefeletten waren steif vor Kälte. Immer wieder rutschte sie auf der vereisten Schneefläche aus. Plötzlich klingelte ihr Handy. Sie dachte an Kommissar Wouters. Früher oder später finden sie es heraus, Liss. Dass jemand in der Nacht bei ihm war. Und zwar eine großgewachsene, viel zu dünne Frau mit rötlichen Haaren, Mitte zwanzig. Sie brauchen gar nicht lange nach ihr zu fahnden. Jeder, der Zako kennt, wird automatisch auf sie stoßen … Es war Rikke, die angerufen hatte. Kurz darauf erhielt sie eine SMS von ihr:
Wo bist du? Ich muss mit dir reden.
Es dauerte fast eine Stunde, bis sie den Harald Hardrådes plass erreichte. An einem Kiosk kaufte sie eine Schachtel Marlboro und eine Flasche Wasser. Steckte sich sofort eine Zigarette an. Weiter oben in der Schweigaardsgate befand sich die Wohngemeinschaft, in der sie gewohnt hatte, bis sie Oslo verließ. Die gab es bestimmt immer noch, nur mit neuen Bewohnern. Catrine schickte ihr weiterhin ab und zu eine SMS , hatte sie sogar ein paarmal in Amsterdam besucht. Vielleicht konnte man sie am ehesten als Liss’ beste Freundin bezeichnen.
Liss zog das Handy aus der Tasche, um sie anzurufen. Catrine wohnte zurzeit im Studentenwohnheim. Auch sie hatte aufgehört, bewaffneten Polizisten Steine und Flaschen entgegenzuschleudern. Vor zwei Jahren hatte sie ihr Politologiestudium in Blindern, an der Universität von Oslo, aufgenommen und erklärt, sie habe bessere Möglichkeiten kennengelernt, um Widerstand zu leisten. Für Liss hatte es nicht ausgereicht, ans andere Ende der Stadt zu ziehen. Sie musste weiter weg.
Da sie nicht gleich jemand erreichte, steckte sie das Handy wieder in die Tasche und setzte ihren Weg in Richtung Grønlandsleiret fort. Sie blieb stehen und blickte an der Fassade des Betonklotzes empor, in dem sich das Osloer Polizeipräsidium befand. Auf der Rückseite war der Trakt mit den Gefängniszellen, in denen sie etliche Stunden verbracht hatte. Es gab nichts Schlimmeres als das Geräusch der Zellentür, die hinter einem zuschlug. Das Bewusstsein, eingesperrt zu sein. Nicht zu wissen, für wie lange … Zur Rechten des Präsidiums die Allee, die zum Gefängnis hinaufführte. Wie hoch war die Strafe für Mord? Oder für fahrlässige Tötung, wenn sie ihrer Version Glauben schenkten? Sie würde an die Niederlande ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt werden. Waren die Gesetze dort strenger? Fünf Jahre? Zehn oder fünfzehn? Vielleicht würde sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung schon über vierzig sein. Sie würden sie einsperren, nicht für wenige Stunden oder eine Nacht, sondern für Monate und Jahre. Das machte ihr wirklich Angst. Ruhelos durch einen winzigen, verschlossenen Raum zu tigern. Am Gitter zu rütteln und an den Wänden zu kratzen. Auf Schritte im Gang zu warten, auf das Klirren der Schlüssel. Genau bemessene Zeit für Spaziergänge an der frischen Luft. Zu wissen, dass es immer so weiterging, bis man alt war. Es geht nicht um dich, Liss, versuchte sie sich zu sagen, ich muss Mailin finden. Alles andere spielt keine Rolle.
Mit zögerlichen Schritten ging sie auf den Eingang des Präsidiums zu. Was hättest du gesagt, Mailin? Sie versuchte, sich die Stimme ihrer Schwester ins Gedächtnis zu rufen.
Diese Entscheidung kann dir niemand abnehmen, Liss.
Das war keine große Hilfe. Sie versuchte es erneut.
Ich will nicht, dass
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