Die Netzhaut
verschaffen.«
Arne ist aufgestanden. Er ist mürrisch, das ist gut, denn dann sagt er nicht viel, und Jo hat seine Ruhe. Und seine Mutter wird er für einige Zeit, vielleicht den ganzen Tag, nicht zu Gesicht bekommen. Er hört sie leise wimmern, als er sich an der Schlafzimmertür vorbeischleicht. Noch in der Küche nimmt er den säuerlichen Geruch wahr.
Draußen glüht die weiße Sonne. Die Steinfliesen brennen unter den Fußsohlen. Soll er umkehren und seine Sandalen holen? Dann müsste er anklopfen. Er geht auf dem schmalen Schattenstreifen direkt an der Hauswand entlang. Das sieht bestimmt blödsinnig aus. Vielleicht hält man ihn sogar für einen Einbrecher. Das letzte Stück läuft er, vorbei an der Bar, die Treppe hinauf bis zum Pool. Die meisten Liegestühle sind schon besetzt. Er spürt, dass die Leute ihn anstarren. Fast kann er sie flüstern hören, als er näher kommt:
Das ist doch der Sohn von dieser …
Am Beckenrand sitzen zwei Mädchen. Die eine war Jo schon im Flugzeug aufgefallen. Sie ist nach ihm aufs Klo gegangen. Sie ist schlank, hat eine spitze Nase und braune Haare, die ihr nass auf dem Rücken kleben. Wahrscheinlich ist sie älter als er. Sie hat schon richtige Brüste. Kein einziges Mädchen in seiner Klasse hat so große Brüste. Sie trägt einen weißen Bikini mit dunkelroten Herzen. Als er an ihr vorbeigeht, schaut er woandershin. Ohne sein gelbes T-Shirt auszuziehen, springt er von der langen Seite des Beckens aus kopfüber ins Wasser, obwohl auf einem Schild »Springen verboten« steht. Kopfsprünge sind seine Spezialität. Er hat schon mal einen vom Fünfmeterbrett gemacht.
Jo krault ein paar Bahnen hin und her. Dann taucht er und gleitet unter Wasser an den beiden Mädchen vorbei. Tauchen kann er besser als alle anderen Jungs seiner Schule. Er spürt, wie sie ihn beobachten. Sie fragen sich bestimmt erstaunt, ob er nicht bald auftauchen muss. Er kommt erst an die Oberfläche, nachdem er auf der anderen Seite des Beckens angeschlagen hat.
Er hievt sich auf den Beckenrand, bleibt ein Stück von den Mädchen entfernt sitzen und lässt das Wasser abtropfen. Sieht sie nicht an und ist sich sicher, dass die eine von ihnen mindestens zweimal zu ihm herübergeschaut hat. Nicht die kleine Stämmige, sondern die Dunkelhaarige mit den Brüsten. Die Hitze ist drückend und verursacht ein dumpfes Pochen in seinem Kopf. Wenn er länger sitzen bleibt, wird das Pochen noch stärker werden, und er weiß nicht, was dann geschieht. Im Nu ist er auf den Beinen. Seine Fußsohlen sind wund. Sie fühlen sich an, als seien sie voller Blasen. Er geht an den Mädchen vorbei, die vielleicht gemerkt haben, dass etwas mit ihm nicht stimmt, biegt um die Ecke und geht hastig die Stufen hinunter. Als er außer Sichtweite ist, beginnt er zu laufen und bleibt erst stehen, als er den kleinen Spielplatz mit dem Schaukelgerüst und der Rutsche erreicht hat. Er ist außer Atem, es brennt in seiner Kehle, und dennoch spürt er immer noch dieses Pochen, als stehe jemand im Dunkeln und schwinge einen Vorschlaghammer. Er lässt sich auf die Schaukel fallen. Überall sind Katzen. Er zählt sechs Stück, die zwischen den Büschen umherlaufen. Er zählt sie erneut. Katzen hat er noch nie gemocht. Sie schleichen herum und tauchen lautlos irgendwo auf, und man weiß nie, woran man bei ihnen ist.
Eine der kleinsten, ein Katzenjunges, hat ein Auge verloren. Er hatte es bereits gestern gesehen, am Tag ihrer Ankunft. Es saß vor ihrer Tür und maunzte. Graubraun und so dünn wie ein Regenwurm. Dort, wo das Auge war, hängt nur noch ein schmaler Lidfetzen. Als er das Tor öffnet, folgt ihm das Kätzchen zur Wohnung. Ihre Vormieter haben es sicher gefüttert. Das ausgehungerte Tier mit dem einen Auge hätte ohne fremde Hilfe bestimmt nicht lange überlebt. Haben denn alle Kreaturen ein Recht zu leben? Jo dreht sich rasch um und stößt einen schrillen Laut aus. Das Tier zuckt zusammen und flüchtet ins Gebüsch.
Natürlich ist es Arne, der die Tür öffnet. Er blickt ihn missmutig an und verschwindet aufs Klo. Bevor Jo seine Sandalen angezogen hat, streckt Arne sein mit Rasierschaum eingeseiftes Gesicht aus dem Badezimmer und schimpft:
»Wenn du das nächste Mal weggehst, nimmst du gefälligst die Kinder mit.«
»Die haben doch noch gar nichts gegessen«, protestiert Jo. Aber Truls klammert sich bereits an ihn. Jo hat nicht die geringste Lust, ihn mitzuschleppen, aber besser Truls ist nicht in der Wohnung, wenn seine
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