Die Netzhaut
klemmte eine Ausgabe des
Dagbladet,
die schon ein paar Tage alt war. Darin eine Notiz auf Seite 8:
»Frau (29) in Oslo verschwunden. Seit Donnerstag nicht mehr gesehen«, las sie. »Polizei ist sich nicht sicher, ob es sich um ein Verbrechen handelt.« Sieben Zeilen, ohne Namen oder Foto.
Sie blätterte weiter. Vor einem halben Jahr hatte das Magazin des
Dagbladet
über sie berichtet. Liss hatte an einem Werbespot mitgewirkt, der in den Niederlanden im Kino gezeigt worden war. Wie das
Dagbladet
davon Wind bekommen hatte, wusste sie nicht. Doch eines Tages standen ein Journalist und ein Fotograf bei ihr in der Marnixkade auf der Matte. Zako behauptete, er habe der Zeitung den Tipp gegeben. Sie wollten eine Homestory machen: Junge Norwegerin auf der Schwelle zur Modelkarriere. Sie verdrehten und verfälschten den Sachverhalt, machten Fotos von ihr, die eine andere Frau zeigten. »Ist es nicht aufregend für eine junge Frau, so viele Blicke auf sich zu ziehen?« Dann die Standardfrage: »Glauben Sie nicht, dass Sie ein schlechtes Vorbild für die vielen magersüchtigen Mädchen sind?« Der Journalist wollte den Glamour einer Branche einfangen und dennoch politisch korrekt sein. »Man muss wissen, was man will«, hatte Liss geantwortet. »Es ist wichtig, dass man die Kontrolle über sein Leben behält.«
»Glauben Sie nicht, dass die Frau in Ihrem Beruf zum Objekt des Mannes degradiert wird?« Allmählich hatte sie von dem Interview genug. »Ich habe nichts dagegen, Objekt zu sein«, hatte sie geantwortet und gemerkt, dass sie es ernst meinte. Sie hätte das Ganze natürlich noch präzisieren und vertiefen, es allgemein verträglich formulieren können, hatte aber keine Lust dazu. Hingegen ließ sie sich zu überspitzten Aussagen verleiten, um sich interessant zu machen. Die Zeitung brachte das Interview schließlich als Beispiel für die veränderte Lebenseinstellung der Frauen von heute. Frauen, die all die Errungenschaften genossen, für die andere Frauen so hart gekämpft hatten, sie jedoch nur in Anspruch nahmen, wenn es ihnen passte. Sie genossen das Leben und sich selbst. Nachdem Mailin das Interview gelesen hatte, rief sie Liss an und gratulierte ihr, obwohl sie gleichzeitig skeptisch gegenüber der Botschaft war. Von ihrer Mutter hatte Liss nie etwas gehört.
Sie blickte auf und stellte fest, dass der Zug am Carl Berners plass angehalten hatte. Sie schaffte es gerade noch, durch die geöffneten Türen zu schlüpfen, ehe sie sich wieder schlossen. Sie eilte die Stufen hinauf, ins Licht. Ihre Stiefeletten waren wieder trocken, doch hatte die Feuchtigkeit an den Außenseiten einen schmutzigen Rand hinterlassen. Vor ein paar Tagen hätte sie sich darüber geärgert, jeder Schönheitsmakel war von Bedeutung gewesen. Doch das kümmerte sie nicht länger, nicht hier, in dieser wintergrauen Stadt.
Sie war mit Mailins Freund verabredet. Als sie an einem Postamt vorbeikam, musste sie auf einmal an Wouters denken. Stellte sich den Namen des Polizisten auf einem Türschild vor. Sie steht vor dieser Tür und hält einen Brief in der Hand. Einen Brief, in dem sie genau beschreibt, was in jener Nacht in Zakos Wohnung vorgefallen ist. Wie sie das Rohypnol in seiner Bierflasche aufgelöst und beobachtet hat, wie er das Bewusstsein verlor. Wie sie einfach weggegangen und ihn an seinem Erbrochenen hatte ersticken lassen.
Aber Mailin ist verschwunden!, protestierte sie im Stillen. Ich kann nichts für sie tun, wenn ich diesen Brief schreibe.
Sie setzte ihren Weg nach Rodeløkka fort. Mailins Freunde hatten stets etwas Sonderbares an sich gehabt. Früher war Liss besessen davon gewesen, ihren Code zu knacken, herauszufinden, was es mit ihnen auf sich hatte. Als läge darin die Antwort auf Fragen, die sie selbst nicht beantworten konnte. Im Bemühen, diesen Code zu entschlüsseln, war sie einmal sehr weit gegangen. Danach hatte sie lieber nichts vom Liebesleben ihrer Schwester wissen wollen.
Das Haus lag in der Langgata. Sie klingelte, wartete kurz, klingelte erneut. Die Haustür war nicht abgeschlossen. Sie öffnete und warf einen Blick in den Eingangsbereich. Im Flur und auf der Treppe zur Rechten brannte Licht.
»Hallo?«
Oben hörte sie das Geräusch einer Tür. Im nächsten Moment tauchte er auf dem oberen Treppenabsatz auf. Dann kam er herunter.
»Entschuldige, ich war im Bad.«
Er blieb stehen, bevor er die unterste Stufe erreicht hatte. Große Augen, hohe Wangenknochen. Seine halblangen dunklen Haare waren
Weitere Kostenlose Bücher