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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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zurückgekämmt. Er lächelte flüchtig, ging die letzte Stufe hinunter und gab ihr die Hand.
    »Viljam.«
    Er war ein Stückchen größer als sie, doch nicht sehr kräftig gebaut. Sie war überrascht. Sie hatte gedacht, dass er derjenige auf dem abgespeicherten Foto auf Zakos Handy war. Aber nicht er war neben Mailin aus der Toreinfahrt gekommen.
    Fast beiläufig gab er ihr die Hand und ließ sie sogleich wieder los. Obwohl er unrasiert war, führte sein Kinnbart auf beiden Seiten gleichmäßig nach unten. Er sieht besser aus als ihre früheren Freunde, schoss es ihr durch den Kopf. Er machte einen ruhigen Eindruck. Vielleicht bemühte er sich darum, diese Ruhe zu bewahren. Bei anderen Menschen traute sie nie ihrem ersten Eindruck, der allzu oft in die Irre führte. Meist empfing sie eine Fülle widersprüchlicher Signale und verborgener Andeutungen. Vorbereiten konnte man sich darauf ohnehin nicht, dachte sie, während sie Viljam durch den Flur folgte. Das meiste konnte sie erst sortieren, nachdem die Begegnung vorüber war, und oft nicht einmal dann.
    Liss sah sich im Wohnzimmer um. Die Decke war hoch, und das Gemälde an der Wand stellte wohl eine Winterlandschaft dar: Schnee zwischen schwarzen Bäumen unter einem grauen Himmel. Es strahlte ein gedämpftes, aber allumfassendes Licht aus.
    »Ist das euer Haus?«, fragte sie, obwohl sie es besser wusste.
    »Nein, aber die Miete ist sehr günstig«, erklärte Viljam. »Ein Freund von Linne arbeitet für unbestimmte Zeit in den USA . Es ist nicht sicher, ob er überhaupt zurückkommt. Wenn nicht, kaufen wir das Haus vielleicht.«
    Er nannte sie Linne. Das hatte Liss auch getan, als sie jünger war.
     
    Viljam zeigte ihr das Obergeschoss. Das Schlafzimmer war in hellen Farben gehalten. In der Mitte stand ein solides Doppelbett aus Eiche. Im Arbeitszimmer gab es ein Gästebett. Liss versuchte alle Gegenstände zu identifizieren, die Mailin gehörten. Das Bett und die dunkelbraunen Ledermöbel, die Orchidee auf dem Fensterbrett, das Gemälde, das Klavier.
    Danach setzten sie sich in der Küche an die Theke, die zugleich als Raumteiler fungierte.
    Viljam schenkte ihnen Kaffee aus einer Presskanne ein.
    »Ich warte jeden Moment darauf, dass sie zur Tür hereinkommt«, sagte er. »Und sich am Türrahmen den Schnee von den Stiefeln klopft.«
    Er nippte an seiner Tasse und wandte den Kopf ab. Liss betrachtete seine Hände. Die Finger waren lang und schmal. Dann studierte sie sein Profil im Nachmittagslicht, das durchs Fenster fiel, und dachte daran, was Tage über Ragnhilds Reaktion auf Viljam erzählt hatte. Dass sie so ein komisches Gefühl habe. Die Mutter hatte mit ihren Gefühlen schon immer ihre Umgebung auf subtile Art beeinflusst, und Liss wusste nur allzu gut, warum sie damals ausgezogen war und niemals wiederkommen wollte.
    »Mailin hat mir erzählt, dass du Jura studierst und nebenher arbeitest.«
    Er nickte.
    »Stimmt. Als freier Rechtsberater für Leute, die sich keinen Anwalt leisten können.«
    Versuchte er, etwas zu verbergen? Tage zufolge war Viljam mit mehreren Kommilitonen zusammen bei der Arbeit gewesen, als Mailin verschwand. Den Rest des Abends, die Nacht und den folgenden Tag hatte er bei ihnen im Haus in Lørenskog verbracht.
    Sie trank einen Schluck Kaffee. Er war genauso schwarz und bitter, wie sie ihn mochte.
    »Am Telefon hast du gesagt, dass Mailin mich anrufen wollte.«
    Selbst im Licht, das durch das Fenster fiel, waren seine Augen dunkelblau. Sie wusste immer noch nicht, was sie von ihm halten sollte. Abgesehen davon, dass er auf eine fast feminine Art hübsch war und damit Mailins Männergeschmack entsprach.
    »Sie wollte mit dir über irgendwas reden«, sagte er. »Ich weiß aber nicht, worum es ging. Dann ist sie zur Hütte gefahren.«
    »Nur für einen Tag?« Liss hörte, dass ihre Stimme skeptisch klang.
    »In letzter Zeit ist sie oft dort gewesen. Sie arbeitet gerade an einem schwierigen Projekt, das Teil ihrer Habilitation ist. Sie meint, da draußen könne sie sich besser konzentrieren. Niemand, der einen stört. Und am Donnerstag wollte sie ja an
Tabu
teilnehmen.«
    Liss sah Mailin vor sich, wie sie vor den großen Fenstertüren der Hütte saß und einen Blick auf den Morrvann warf, der durch die Bäume schimmerte.
    »Berger, der alte Rocker, ist also zum Talkmaster aufgestiegen«, meinte sie.
    »Hast du etwa noch nie
Tabu
gesehen? Um die Sendung wird ein riesiger Hype gemacht.«
    »Ich habe seit Jahren kein norwegisches Fernsehen

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