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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Schwester« sagte. »Und ich sage, du sollst sie in Ruhe lassen!«
    Sie sah ihm an, dass er langsam wütend wurde. Es war die Art, wie er den Hals vorstreckte, bevor seine Augen zornig zu funkeln begannen.
    »Und falls ich es gewesen wäre, der sie hierher bestellt hätte, dann ginge dich das einen feuchten Kehricht an, Gabrielsen!«
    Sie machte einen weiteren Schritt auf ihn zu.
    »Ich habe bei der Polizei für dich gelogen«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Das hast du hoffentlich nicht vergessen. Ich habe eine Falschaussage gemacht. Das ist eine strafbare Handlung. Ich könnte meine Aussage jederzeit widerrufen, mein Lieber, und ihnen die Wahrheit sagen: dass du nämlich an dem Tag, an dem Mailin verschwand, um sechs Uhr nicht da warst und erst um neun Uhr hier aufgetaucht bist und völlig von der Rolle warst. Und dafür war keiner deiner Patienten verantwortlich, wie du mir einreden wolltest.«
    »Das habe ich mit Rücksicht auf dich behauptet.«
    »Ach, du wolltest mich schonen … erspare mir deine Heuchelei, die widert mich an!«
    Wie immer gab er nach. Er konnte ihr im Zorn etwas an den Kopf werfen, sie beleidigen oder provozieren, aber dann zog er sich wieder zurück. Er hatte einfach nicht die Kraft, etwas konsequent durchzustehen, ob im Streit oder in anderen Dingen.
    »Ich hab noch einiges zu tun«, sagte er erschöpft. »Muss mit dem Kram hier fertig werden.« Er ließ seinen Zeigefinger über den Papieren kreisen, die vor ihm auf dem Tisch lagen, doch sie glaubte ihm nicht. Er hasste jede Form von Schreibarbeiten, vernachlässigte seine Patientenakten und schickte notwendige Unterlagen stets zu spät los. »Oder willst du Oda selbst abholen?«
    Darauf hatte sie gewartet, dass er schließlich ihre Tochter ins Spiel bringen würde.
    »Du holst sie ab«, entgegnete sie so kühl wie möglich. »Oder hatten wir etwas anderes verabredet?«
    Er zuckte die Schultern.
    »Dann lass mich hier meine Arbeit machen.«
    Seine Arroganz ließ ihre Wut erneut aufflammen.
    »Sie hat es damals erfahren … die Sache mit dir und Liss!«
    »Wer hat was erfahren?«
    Sie hörte, dass sie ihn überrumpelt hatte und ihm gerade klar wurde, wovon sie redete.
    »Na und?«, gab er gelassen zurück, doch sie sah, wie sein Nacken sich krümmte. Entweder würde er im nächsten Moment erregt aufspringen oder zu schluchzen anfangen. Jetzt hatte sie ihn in der Hand und ließ nicht locker:
    »Ich habe es damals Mailin erzählt.«
    »Mach, dass du rauskommst!«, fauchte er und hackte wieder auf die Tastatur ein.
     
    Als sie zurück in ihrer Praxis war, nahm sie ihr Handy und öffnete den Menüpunkt »Kontakte«. Sie hatte Mailin selbst vorgeschlagen, sich an Tormod Dahlstrøm zu wenden, als sie vor drei Jahren einen neuen Betreuer brauchte. Und Dahlstrøm gegenüber hatte sie ihre Freundin als kompetent und gewissenhaft beschrieben. Hätte sie geahnt, dass ihn Mailin derart in Beschlag nehmen, ja ihn sogar überreden würde, ihr Forschungsprojekt zu betreuen, hätte sie die beiden nie zusammengebracht. Dahlstrøm hatte eigentlich nur wenig Zeit und es unter anderem abgelehnt, Torunns eigenes Projekt zu begleiten, als sie ihn im Jahr zuvor gefragt hatte. Sie hatte ihren Zorn längst analysiert und herausgefunden, dass er auf Eifersucht zurückzuführen war, ohne dass diese Erkenntnis ihre Wut auch nur im mindesten besänftigt hätte. Es wurde auch nicht besser, als Dahlstrøm sich bei fachlichen Auseinandersetzungen auf Mailins Seite schlug. Doch nach den jüngsten Ereignissen bestand vielleicht die Chance, die Vergangenheit ruhenzulassen und nach vorne zu blicken.
    Sie blieb sitzen und starrte auf ihren Monitor. Fragte sich, was Oda wohl gerade machte. Vermutlich hatten sie im Kindergarten bereits gegessen und spielten jetzt draußen … Sie musste die Sache mit Pål aus der Welt schaffen und ihn dazu bringen, ihr zu erzählen, was an jenem Abend, als Mailin verschwand, vorgefallen war. Sie konnte diese Ungewissheit nicht länger ertragen. Sie stand auf und ging zur Tür, blieb mit der Hand auf der Klinke stehen. Torunn begriff, dass sie warten musste, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann würde sie ihm über die Haare streichen. Wenn er gereizt war, kam sie nicht an ihn heran. Er wurde selbstdestruktiv. In letzter Zeit hatte er viel getrunken. Erinnerte sie ständig daran, dass er immerhin fast drei Jahre mit Mailin zusammen gewesen war, und setzte sie unter Druck. Wie Mailin als Person war und wie sie niemals sein

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