Die Netzhaut
Anflug eines Lächelns in seinen Augen.
Sie schlug das rote Notizbuch auf und betrachtete Mailins Buchstaben. Sie beugten sich zur Seite und waren unterschiedlich groß. Fast eine Kinderschrift. Mailin hatte tatsächlich etwas Kindliches an sich. Sie, die stets gewusst hatte, was sie tun sollte.
Liss schrieb:
Fast alles, was ich weiß, habe ich von Mailin gelernt. Aber nicht, wie ich davon Gebrauch machen soll.
Leidenschaft ist Liebe und Hass.
Das Kind, das Liebe sucht und auf Begierde trifft.
War Mailin an jenem Abend in ihrer Praxis?
Torunn Gabrielsen. Eifersucht.
Dahlstrøm fragen, was zwischen ihr und Mailin vorgefallen ist.
Påls Hände sind immer kalt und klamm.
Mailin: Mittwochnachmittag zur Hütte. Hat Viljam angerufen. Noch jemand? Hat mir Donnerstag
SMS
geschickt. Kontakt zu Berger aufgenommen. Hat sie ihn getroffen
?
Tabus. Wir brauchen Tabus.
Der Patient, mit dem sie verabredet war: JH. Hat sie ihn getroffen
?
Death by water
. Muss irgendein Titel sein. Ein Film? Kann man sterben, wenn man zu viel Wasser trinkt? Ophelia
.
Was ist mit Viljam? Hat Mailin gesehen, wem er ähnelt?
Sie hielt inne und las den letzten Satz. Hatte selbst nicht an diese Ähnlichkeit gedacht, ehe sie ihn niederschrieb.
Seine Art zu sprechen. Teils auch die Mimik.
Wann haben wir zum letzten Mal von ihm gehört?
Papa.
Sie steckte das Notizbuch wieder in die Tasche. Ein gutes Gefühl, es dort zu wissen. Mailins Notizbuch. Jetzt gehörte es ihr. Vielleicht wollte Mailin, dass sie es weiterführte. Dieser Gedanke brachte sie dazu, es wieder hervorzuziehen.
Warum kann ich mich fast an nichts aus meiner Kindheit erinnern?
Ich erinnere mich an den Schulweg, an ein paar Lehrer, die Namen einiger Mitschüler. Ich erinnere mich daran, wie Tage zu uns nach Hause kam und dass wir es hassten, wenn er da war. Ich erinnere mich, dass wir auf dem Sofa saßen und Papa im Fernsehen sahen und Mama hinausging, weil sie diese Situation nicht ertrug. Aber nach all dem anderen hätte ich dich fragen sollen, Mailin. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie Papa war, bevor er gegangen ist. Trotzdem sehe ich ihn ganz deutlich vor mir.
Wo sind nur meine Erinnerungen geblieben? Sind sie verschwunden oder nur in Kisten verstaut, die sich nicht mehr öffnen lassen?
Wouters hieß der Polizist aus Amsterdam. Ich habe versucht, seinen Namen zu vergessen. Falls es mir doch noch gelingt, kann ich vielleicht auch vergessen, was dort geschehen ist. Kann mir eine andere Geschichte über die Nacht in der Bloemstraat zurechtlegen, sie mir immer wieder erzählen. So oft, bis sie zu einer Erinnerung wird und das verdrängt, was ich jetzt vor mir sehe.
Sie nahm die Straßenbahn zum Jernbanetorget, ging die Stufen zum Hauptbahnhof hinauf. In einer halben Stunde fuhr der Bus nach Lørenskog ab. Sie sträubte sich gegen diese Fahrt. Ihre Mutter hatte versucht, das Haus ein wenig zu schmücken, und einen Stern ins Wohnzimmerfenster gehängt. Hatte den Stall mit der Krippe hervorgekramt, der während der Adventszeit stets im Regal stand. Früher hatten Liss und Mailin an jedem Tag eine neue Figur hinzugefügt. Maria und Josef, die drei Könige aus dem Morgenland, Hirten und Engel. Das Jesuskind wurde erst am Weihnachtsmorgen in die Krippe gelegt. Die Mutter hatte, auch nachdem sie beide ausgezogen waren, an diesem Ritual festgehalten. Keinen Augenblick ihres Lebens hatte sie daran geglaubt, was sich angeblich in dem Stall ereignet hatte. Aber die Figuren wurden dennoch hineingestellt, Jahr für Jahr dieselbe Zeremonie. Und jetzt schien es fast so, als sollten die Figuren aufgestellt werden, um Mailin an Weihnachten nach Hause zu locken, denn sie kam immer, wenn alle Figuren an ihrem Platz waren.
Liss schlenderte gemächlich über die Brücke zum Busbahnhof und kehrte auf halbem Weg um. Sie ertrug den Gedanken nicht, die Nacht im Haus in Lørenskog zu verbringen. Also ging sie wieder zur Bahnhofshalle zurück. In diesem Moment erblickte sie am Presseshop eine Gestalt. Knochig, mager, strubbelige schwarze Haare. Liss erkannte sofort, dass es der Typ war, den sie in Mailins Behandlungszimmer überrascht hatte. Er trug dieselbe Matrosenjacke mit dem Anker auf der Brusttasche. Jetzt redete er mit einem Mädchen, das einen kurzen Anorak und eine schmutzige Jeans trug.
Liss ging direkt auf ihn zu.
»Kennen Sie mich noch?«
Der Mann warf ihr einen Blick zu. Auf der Stirn, unter dem Pony, hatte er eine auffällige Narbe.
»Sollte ich?«, fragte
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