Die Netzhaut
gemacht. Vielleicht war es ein flüchtiger Gedanke gewesen, während sie an etwas anderem gearbeitet hatte. Liss steckte den Zettel in das Notizbuch.
Als sie das Behandlungszimmer verließ, öffnete sich die Tür am anderen Ende des Raumes. Der Mann, der herauskam, war mittelgroß und schmalschultrig, trug Sakko und Jeans.
»Da bist du ja!«, rief er aus, blieb stehen und starrte sie an. Dann kam er auf sie zu und blieb irritierend nah vor ihr stehen. Sie trat einen Schritt zurück.
Pål Øvreby war zwar gealtert und hatte sich einen schütteren Bart zugelegt, aber er hatte immer noch den gleichen Geruch an sich. Nicht nur nach seinem Calvin-Klein-Deo, sondern auch nach Tabak und etwas anderem, das an Gummi erinnerte.
»Hab gehört, dass du vor ein paar Tagen schon mal da warst«, sagte er leise.
»Ich wollte ihren Arbeitsplatz sehen«, brachte Liss mühselig über die Lippen.
Pål Øvreby schüttelte den Kopf.
»Das mit Mailin ist wirklich …« Er schien nach dem passenden Ausdruck zu suchen. »… nicht zu fassen.«
Sie entgegnete nichts. Mailin war nur ein Vorwand, um sich ihr aufzudrängen. Doch Liss konnte sich nicht überwinden, die Arme auszustrecken und ihn wegzustoßen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Wartezimmer. Pål Øvreby zuckte zusammen. Liss erkannte die Frau wieder, deren Kopf in der Türöffnung erschien. Es war Torunn Gabrielsen, die ein Stockwerk tiefer arbeitete.
»Ich warte!«, sagte sie ungeduldig, und Liss entnahm ihrem Tonfall, dass sie Pål Øvreby offenbar als ihr Eigentum betrachtete.
»Ach, du bist’s«, sagte sie, zu Liss gewandt, und ließ keinen Zweifel daran, wer hier das Sagen hatte.
Erst jetzt spürte Liss, wie verärgert sie war.
»Ich hab was gesucht, was ich hier letztes Mal vergessen hatte«, brummte sie.
»Es ist so schrecklich!«, klagte Torunn Gabrielsen, deren misstrauischer Ton verschwunden war. »Einfach zu verschwinden, und man weiß so gar nichts … also ich kann nachts praktisch gar nicht mehr schlafen.«
Man sah ihr allerdings nicht an, dass sie unter Schlafmangel litt.
»Setz dich, Liss. Wir müssen reden.«
»Aber wollten wir nicht …«?, fragte Pål Øvreby.
»Liss macht jetzt eine schwere Zeit durch, Pål. Da ist es doch das Mindeste, dass wir uns anhören, wie es ihr geht.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, entgegnete Liss, ließ sich aber auf einem der Stühle nieder. »Ich komme schon zurecht.«
Pål Øvreby blieb schräg hinter ihr stehen, was sie mit Unbehagen erfüllte.
»Ich weiß, dass Mailin und du euch sehr nahesteht«, sagte Torunn und ließ sich auf das Sofa fallen.
Liss hörte, wie sehr Torunn sich bemühte, ihrer Stimme einen mitfühlenden Klang zu geben, und versuchte, das Thema zu wechseln.
»Arbeitet ihr zusammen?«
Die beiden Psychologen wechselten einen Blick. Pål Øvreby sagte: »Wir haben ja denselben Aufenthaltsraum und machen oft zusammen Mittag.«
Er hatte nach wie vor diesen lächerlichen amerikanischen Akzent, den Liss immer als künstlich empfunden hatte.
»Mailin war am Donnerstagnachmittag hier. Habt ihr sie gesehen?«
Erneut warfen sie sich einen Blick zu. Liss hatte den Eindruck, als verständigten sie sich stumm, wer wann antworten sollte.
»Darüber haben wir schon mit der Polizei gesprochen, Liss«, antwortete Torunn Gabrielsen in einem mütterlichen Tonfall. »Ihr Auto war vor der Tür geparkt, doch niemand von uns war hier, als sie in die Praxis kam.«
Sie blinzelte hinter ihren Brillengläsern. Vielleicht waren sie zu schwach. Das Gestell schien noch aus den 80er-Jahren zu stammen.
»Wie viel Einblick habt ihr in Mailins Arbeit?«, wollte Liss wissen.
»Ab und zu diskutieren wir beim Lunch über komplizierte Sachverhalte«, antwortete Pål Øvreby. »Es ist in unserem Beruf auch sehr wichtig, sich gegenseitig den Rücken zu stärken.«
Er war mit Mailin zusammen gewesen. Das war jetzt fast zehn Jahre her. Liss konnte sich nicht vorstellen, dass Mailin es nötig hatte, sich von jemand wie ihm den Rücken stärken zu lassen.
»Früher haben Mailin und ich ziemlich eng zusammengearbeitet«, erklärte Torunn Gabrielsen. »Wir haben gemeinsam mehrere Artikel geschrieben.«
»Worüber?«
»Sexuelle Gewalt gegen Frauen. Einschüchterung, Psychoterror, Vergewaltigung. Dass wir in einer Stadt leben wollen, in der sich alle sicher fühlen können, unabhängig von ihrem Geschlecht.«
»Und inzwischen arbeitet ihr nicht mehr zusammen?«
»Nicht mehr so viel.«
Torunn Gabrielsen
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