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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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würde. Torunn überhörte dieses Gerede. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Während eines Streits vor ein paar Wochen hatte er sich erst über Mailin und dann über Liss ausgelassen. Torunn hatte so getan, als interessiere sie das alles nicht. Doch später war ihr übel vor Wut geworden, als sie begriff, worüber er die ganze Zeit gefaselt hatte. Schließlich sorgte sie dafür, dass er ihr auch den Rest erzählte. Nachher spielte er alles herunter. Entschuldigte sich damit, dass er zu viel getrunken hatte. Wenn er trank, sagte er manchmal die ungeheuerlichsten Dinge, allerdings nicht vergleichbar mit dem, was er über Liss gesagt hatte.
    Vor gut einer Woche hatten Torunn und Mailin zusammen Mittagspause gemacht, was nur noch selten vorkam. Nach all den Auseinandersetzungen über Mailins Artikel hatte sich ihr Verhältnis verkrampft. Ein weiteres Mal hatte Mailin ihre Besorgnis über ihre kleine Schwester zum Ausdruck gebracht, die angeblich wieder in gefährliches Fahrwasser geraten war. Vielleicht hatte sie dieses Thema nur deshalb angeschnitten, weil es nichts mit den fachlichen Konflikten zu tun hatte, die ihre Beziehung belasteten. Torunn hatte die Gelegenheit benutzt, um mehr über Liss zu erfahren, und Mailin schien erleichtert zu sein, dass Torunn ein echtes Interesse zeigte. Behutsam brachte Torunn das Gespräch auf die Zeit vor neun oder zehn Jahren. Damals waren Pål und Mailin ein Paar gewesen. Auf diese Weise bestätigte sich das, was sie nicht hatte wissen wollen.

11
    L iss saß im Café gegenüber dem Fabriktor. Auf dem Tisch vor ihr lagen mehrere Zeitungen. Es war Donnerstag, Mailin war seit einer Woche verschwunden und hatte es auf die Titelseiten von
Dagbladet
und
VG
geschafft. Gestern hatte sich die Polizei an ihre Mutter gewandt. Sie wollten mit der Fahndung an die Öffentlichkeit gehen, mit Namen und Foto, in der Hoffnung, irgendwelche Tipps aus der Bevölkerung zu bekommen. Ihre Mutter hatte Liss gefragt, was sie davon halte, obwohl sie offenbar mit der Entscheidung der Polizei einverstanden war.
    Liss hatte sich bis jetzt nicht überwinden können, einen Blick in die Zeitungen zu werfen, doch das Foto von Mailin begegnete ihr an jedem Kiosk und Lebensmittelgeschäft. Es half nicht, den Kopf abzuwenden. In
VG
entdeckte sie einen Artikel über Berger, der die Überschrift trug: »Bereue nichts«. Der Talkmaster ließ keinen Zweifel daran, dass er es völlig in Ordnung fand, sich über einen abwesenden Gast lustig zu machen, der es offenbar nicht für nötig befunden hatte abzusagen. Ein Kommentar aus seiner Talkshow wurde wörtlich zitiert: »Tja, es sieht nicht so aus, als wollte uns die junge Psychologin mit ihrem Besuch beehren. Wahrscheinlich wurde sie im letzten Moment von ihrer feministischen Fotzenvereinigung davon abgehalten.«
    Das
Dagbladet
leuchtete ihren beruflichen Hintergrund aus, beschrieb ihre Beschäftigung mit früheren Opfern sexueller Gewalt und ließ zwei ehemalige Patienten von Mailin zu Wort kommen. Auf der nächsten Seite war ein Interview mit Tormod Dahlstrøm abgedruckt, der sich sehr positiv zu Mailins Forschungsarbeit äußerte. Unter der Überschrift »Kollegen geschockt« waren Fotos von Torunn Gabrielsen und Pål Øvreby zu sehen. Sie schienen im selben Wartezimmer aufgenommen worden zu sein, in dem Liss mit ihnen vor wenigen Stunden gesprochen hatte.
    Sie blickte aus dem Fenster und betrachtete den kleinen Weihnachtsbaum mit den bunten Lichtern. Die Leute liefen mit vollen Einkaufstüten daran vorbei. Kauften Weihnachtsgeschenke, als sei nichts geschehen, als sei ihnen Mailins Gesicht auf den Titelseiten der Zeitungen vollkommen gleichgültig.
Dagbladet
und
VG
hatten ein Foto von Mailin veröffentlicht, das Liss noch nie gesehen hatte. Wahrscheinlich war es erst vor kurzer Zeit aufgenommen worden. Irgendwo in ihrem ruhigen Blick konnte Liss einen Hilferuf erkennen. Sie faltete die Zeitungen zusammen und warf sie auf den Tisch.
    Im selben Moment stand der Kellner neben ihr. Es war offensichtlich, dass er sie wiedererkannte.
    »Espresso?«, fragte er.
    »Ja, einen doppelten.«
    »Noch etwas?«
    Nein. Dann hatte sie eine Eingebung. Sie konnte ihn bitten, sich zu ihr zu setzen und seine großen Hände auf ihre zu legen. Seine Handrücken waren mit kurzen, schwarzen Haaren bedeckt. Sie erinnerten an Zakos Hände.
    Kurz darauf war er mit dem Espresso zurück. Hatte ein kleines Schokoladentäfelchen auf die Untertasse gelegt.
    »Bald ist Weihnachten«, sagte er mit dem

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