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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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rieb die Füße aneinander. Immer noch frierend, glitt sie in einen Dämmerzustand hinüber. Sie hat einen Mann in langem Mantel vor Augen, der eine Treppe hinaufsteigt. Er heißt Wouters, Liss. Du wirst es nie vergessen können. Sie betritt das dunkle Wohnzimmer, beugt sich über Zako und lauscht auf seinen Atem. Er ist tief und unregelmäßig.
    Es klopft an der Tür.
    Nicht aufmachen, Liss. Du darfst nicht aufmachen.
    Dort steht Mailin, mitten im Zimmer. Statt ihres blauen Pyjamas trägt sie einen gelben, der in der Dunkelheit leuchtet. Sie hat sich die Haare geschnitten.
    Liss schreckte auf, sprang aus dem Bett, lauschte ins Dunkel. Sie war sicher, dass jemand an der Tür geklopft hatte.
    Ihr Rücken war klamm. Sie öffnete das Fenster und knipste das Licht an. Fand das Notizbuch in ihrer Handtasche und nahm es mit ins Bett. Lange strich sie über den Plüschumschlag, bevor sie es öffnete und zu schreiben begann:
    Geschah das öfter, Mailin, dass du zu mir kamst und die Tür von innen abgeschlossen hast? Dass du zu mir ins Bett gekrochen bist und mich umarmt hast? Mir die Ohren zugehalten hast, damit ich das Hämmern an der Tür nicht hörte? Damit ich nicht hörte, was die Stimme dort draußen uns zurief?

9
    Donnerstag, 18. Dezember
    L iss schloss sich in Mailins Behandlungszimmer ein und schaltete das Deckenlicht an. Auch diesmal wusste sie nicht, wonach sie eigentlich suchte, hatte aber zumindest eine Idee, wo sie anfangen wollte. Sie ging zum Regal und nahm die drei Aktenordner herunter, auf denen »Habilitation« stand. Zwei davon enthielten großteils Artikel aus dem Internet. Sie legte sie beiseite und öffnete den dritten. Er enthielt Dokumente, die offenbar von Mailin selbst stammten. Sie waren fein säuberlich geordnet und numeriert. Auf der Titelseite stand: »Opfer und ihre Täter«. Eine Studie über acht junge Männer, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren. Sie blätterte sich durch mehrere Seiten mit Notizen, einige davon handgeschrieben. Hinter dem nächsten Trennblatt stieß sie auf etwas, das wie ein Entwurf zu einem größeren Text wirkte:
    »Ausgehend von Ferenczis These (vergleiche
Confusions of tongues between adult and child,
1933), sollen zunächst zwei Aspekte beleuchtet werden. 1) Das Suchen des Kindes nach Zärtlichkeit kann infantile erotische Elemente haben, doch auch diese sind auf Spiel, Sicherheit und Zufriedenheit gerichtet. Die leidenschaftliche Sexualität des Erwachsenen steht hingegen im Spannungsfeld zwischen Liebe und Hass. Der Trieb zur Grenzüberschreitung enthält Elemente der Zerstörung. 2) Sexueller Missbrauch geschieht dort, wo die Suche des Kindes nach Fürsorge und Zärtlichkeit auf die Leidenschaft des Erwachsenen trifft. Die Leidenschaft kann den Charakter sexueller Begierde haben. Sie kann aggressiv/strafend sein oder darin bestehen, dass dem Kind das Schuldgefühl des Erwachsenen aufgebürdet wird.«
    Liss blätterte bis zum dritten Trennblatt: »In diesem Kapitel will ich acht männliche Patienten vorstellen, die allesamt Opfer sexueller Übergriffe waren. Dass sie später selbst sexuelle Gewalt ausübten, kann weitestgehend ausgeschlossen werden. Mit allen acht Personen werde ich vor Beginn der Behandlung und dann innerhalb der nächsten drei Jahre alle sieben Monate ein Interview führen. Die Evaluierung von aggressivem Verhalten, Depressionen, Angst und genereller Lebensqualität werden …«
    Es folgten mehrere Seiten mit methodischen Darlegungen, aber Mailin verwahrte in diesem Ordner natürlich keine Einzelheiten zu den acht Patienten. Vielleicht befanden sich die entsprechenden Unterlagen in dem Aktenschrank, den sie sich mit ihren Praxiskollegen teilte.
    Liss blickte hinaus auf die Schneeflocken, die an der graugelben Fassade auf der anderen Seite der Welhavens gate schmolzen. Außerhalb der Stadt, in den Wäldern, war es sicher so kalt, dass der Schnee liegen blieb. Sie konnte den Bus nach Lørenskog nehmen, ihre Langlaufskier aus der Garage holen und mit ihnen so weit fahren, bis sie ganz von der Stille umfangen wurde. Sie entschloss sich, am nächsten Tag zur Hütte zu fahren.
    Erneut betrachtete sie die Postkarte vom Bloemenmarkt, die sie Mailin geschickt hatte. Widerstand der Versuchung, sie an sich zu nehmen, und empfand es wie immer als peinlich, etwas zu lesen, das sie selbst geschrieben hatte. Stattdessen steckte sie das Post-it ein, das darunterhing. »Frag ihn nach
Death by water
.« Offenbar hatte sich Mailin diese Notiz in aller Eile

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