Die Netzhaut
Vollbart. Die andere Besucherin, eine Frau mit rötlichen Haaren, hatte ihr den Rücken zugedreht.
Der Graubärtige streckte die Hand aus.
»Tage Turén Bjerke«, stellte er sich vor.
Sie erkannte sofort den schwedischen Akzent. Seine Handfläche war klamm, seine Lippen zitterten.
»Sind Sie der Vater der Toten?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin mit ihrer Mutter verheiratet. Sie war nicht in der Lage, mich zu begleiten.«
Jennifer wandte sich seiner weiblichen Begleitung zu. Die junge Frau war hochgewachsen und ungewöhnlich schlank, doch es waren ihre Augen, die sofort Jennifers Aufmerksamkeit fesselten. Groß und grün, vielleicht auch gelbbraun, und ihr Blick hatte etwas an sich, das es schwermachte, sich von ihm zu lösen. Schöne Frauen hatten Jennifer schon immer fasziniert. Sie hatte drei, vier Modezeitschriften abonniert, teils um auf dem Laufenden zu bleiben, was Kleidung und Make-up anging, aber vor allem, weil es ihr Spaß machte, sich durch die Fotos von stilisierter weiblicher Schönheit zu blättern. An diesem Morgen war sie allerdings auf etwas anderes vorbereitet gewesen. Sie hatte sich genau überlegt, was sie sagen und wie sie die Angehörigen zur Kapelle führen wollte, wie weit sie das Laken zurückziehen würde, das den Körper der Toten bedeckte. Doch der Anblick der jungen Frau brachte sie für einen Augenblick aus dem Konzept. Es waren nicht nur ihre Augen, sondern auch der Schwung ihrer Lippen und die Stirn unter dem kastanienbraunen Haar.
»Liss Bjerke. Ich bin die Schwester von Mailin Bjerke.«
Ihre Hand war kalt und trocken, die Haut wie Marmor. Jennifer nahm sich zusammen, stellte sich vor und fand den roten Faden wieder, den sie sich zurechtgesponnen hatte. Sie ging voran, als sie den Platz überquerten, und blieb vor der Tür der Kapelle stehen.
»Ich weiß, wie schwer es Ihnen fällt, hier zu sein.«
Die junge Frau nickte unmerklich. Der bärtige Mann zitterte noch stärker.
Jennifer öffnete die Tür. Die Bahre mit der Toten stand mitten im Raum unter der Deckenlampe. Jennifer stellte sich daneben und gab ihnen ein Zeichen. Tage Bjerke blieb wie festgefroren an der Tür stehen und war offenbar nicht in der Lage, sich vom Fleck zu rühren. Doch die junge Frau kam langsam heran. Als sie neben der Bahre stehen blieb, wartete Jennifer ein paar Sekunden, ehe sie das Tuch anhob und behutsam bis zur Brust zurückzog. In diesem Augenblick war sie erleichtert darüber, dass es gelungen war, die schlimmsten Verletzungen des Körpers zu verbergen. Der Präparator hatte ein Tuch um den Kopf gelegt, das alle geschädigten Stellen verdeckte, und der Toten die Haare gewaschen. Das Haar war von Blutklumpen und der Masse durchsetzt gewesen, die aus dem Schädel gedrungen war. Jennifer konnte der Schwester ein Gesicht präsentieren, das der brutale Tod nicht in eine abscheuliche Maske verwandelt hatte. Es waren weder offene Kopfverletzungen noch ein Gesicht zu erkennen, dessen Haut in Stücke geschnitten oder verbrannt war. Ein schwacher Trost, zumindest für mich, dachte sie.
Plötzlich beugte sich die junge Frau nach vorne, ergriff die Hand der toten Schwester und drückte sie an ihre Wange. Ihr Rücken zuckte zwei, drei Mal, während sie den Namen der Verstorbenen vor sich hin murmelte. Sie flüsterte noch etwas anderes, was Jennifer nicht verstand, weil sie ein paar Schritte zurückgetreten war und sich halb abgewandt hatte. Lange stand die Frau so da. So lange, dass Jennifer schon dachte, sie müsse ihr irgendein Zeichen geben. Doch ehe es so weit kam, richtete sich die Besucherin wieder auf. Ohne ihren Blick von der Toten abzuwenden, fragte sie:
»Was ist mit ihren Augen?«
Ihre Stimme klang unerwartet klar und deutlich. Jennifer betrachtete das Gesicht der Toten. Die Lider hatten sich nicht vollkommen schließen lassen. Darunter war ein Teil der zerstörten Haut sichtbar.
Sie antwortete: »Die Verstorbene hat Verletzungen an beiden Augen davongetragen.«
Die Frau drehte sich zu ihr um. Ihr Blick war verschleiert, was in diesem Moment eine umso stärkere Wirkung hatte.
»Was für Verletzungen?«
»Sie stammen von einem spitzen Gegenstand.«
»War sie blind, als sie starb?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht konnte sie immer noch etwas erkennen, zumindest das Licht.«
Plötzlich hob die junge Frau die Hand, die sie immer noch festhielt.
»Wo ist ihr Ring? Haben Sie ihn abgezogen?«
Jennifer hatte bemerkt, dass am vierten Finger der linken Hand der Abdruck eines Rings
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