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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihrer Fackel über das Wasser. »Dort vorn«, sagte sie und deutete mit der freien Hand nach rechts. »Seht ihr es?«
    Die Frage war überflüssig. Jeder von uns sah es sofort. Aus der schwarzen Oberfläche ragte etwas hervor – der Bug einer Gondel. Sie mußte schon vor Ewigkeiten gesunken sein und seither im Schlick stecken. Das Holz war völlig verfault.
    Ich sah noch einmal zur anderen Seite hinüber. Zu erkennen war nur das steinerne Ufer und zwei, drei Schritte des Bodens dahinter. In der Dunkelheit mochten dort Berge von Gold auf ihre Entdeckung warten oder auch gar nichts. Vielleicht war dort nur eine Wand oder ein Haufen aus Schutt und Gerümpel. Blieb jedoch die Frage, weshalb die Erbauer diesen Bereich durch einen Wasserstrang abgeteilt hatten. Mußte es dort nicht in der Tat etwas geben, das nicht für jedermanns Augen – und Hände – bestimmt war?
    Hinter uns in der Finsternis ertönte ein Geräusch. Ein Schritt, möglicherweise, vielleicht auch nur eine hungrige Ratte. Ich blickte die anderen an. Zumindest Faustus hatte es ebenfalls gehört. Er sah sich angestrengt um, doch auch seine Augen vermochten die Schwärze nicht zu durchdringen.
    Trotzdem flüsterte er: »Da ist jemand.«
    »Wir müssen irgend etwas unternehmen«, zischte Gwen gehetzt. Ihr war anzusehen, daß die vergangenen Tage in der Dunkelheit des Schlosses und in der Einsamkeit der Kellertiefen an ihrer Geduld gezehrt hatten. Aus dem Mädchen mit dem hübschen Grinsen war eine lauernde Raubkatze geworden, in jedem Augenblick bereit, zuzuschlagen.
    »Einer von uns muß schwimmen«, entschied Delphine. Es war offensichtlich, daß sie einen von uns Schülern im Sinn hatte, am liebsten aber Angelina. Sie konnte ihr die Schnittwunde am Hals schwerlich verzeihen.
    Faustus trat ans Ufer und zog seinen Mantel von den Schultern. Einen Moment lang glaubte ich, er wollte tatsächlich springen. Dann aber streckte er nur den Arm mit dem Mantel aus und ließ den Stoff fingertief ins Wasser sinken. Sofort geriet die Oberfläche in Bewegung, glänzende Schlangenleiber ringelten sich durch die Fluten. Eine verbiß sich gar in der unteren Kante des Mantels, und Faustus mußte ihn heftig schütteln, bis das Tier zurück ins Wasser klatschte.
    »Sie sind angriffslustig, aber nicht giftig«, sagte er und hängte sich den Mantel wieder um. »Man könnte es schaffen.«
    Diese Vorstellung war zuviel für mich. »Reicht es nicht, daß jemand durch dieses Schloß läuft, der uns töten will? Müssen wir uns da auch noch selbst umbringen?«
    »Wie ich sagte«, entgegnete Faustus, »man könnte es schaffen. Ich werde es versuchen.«
    »Herrgott!« rief ich. »Habt Ihr den Verstand verloren? Selbst wenn Ihr die Schlangenbisse überleben solltet, so weiß doch niemand von uns, wie dieser Graben unter der Wasseroberfläche aussieht. Ihr könntet im Schlamm steckenbleiben. Es könnte auch versteckte Fallen geben, Eisenspitzen oder scharfe Klingen. Derjenige, der diesen Keller erbaut hat, hat sicher vorgesorgt. Ganz zu schweigen von all dem Gewürm, das sich außer den Schlangen im Wasser befinden könnte!«
    Faustus zögerte. Nicht, weil er alle diese Möglichkeiten nicht auch in Betracht gezogen hätte; das hatte er längst, dessen war ich sicher. Nein, er stutzte, weil in diesem Augenblick neue Geräusche zu hören waren.
    Und diesmal waren es eindeutig Schritte. Menschliche Schritte, barfuß.
    Das Merkwürdige war, sie erklangen nicht mehr hinter unseren Rücken.
    Statt dessen kamen sie von dort, wo Faustus gerade noch unter Einsatz seines Lebens hingelangen wollte – von der anderen Seite des Wassers!
    Angelina, Delphine und Gwen traten gleichzeitig ans Ufer und leuchteten mit ihren Fackeln hinüber. Ihr lodernder Schein ergoß sich auf die gegenüberliegende Steinkante. Ganz außen, am Rande des Lichtkreises, näherte sich eine fahle Gestalt, kaum mehr als die vage Ahnung menschlicher Umrisse. Es war unmöglich, Einzelheiten zu erkennen. Jetzt blieb sie stehen. Sagte kein Wort.
    »Wer ist da?« fragte Delphine.
    Die Gestalt gab keine Antwort. Sie stand einfach nur da, starr, wie leblos.
    Zugleich aber ertönten hinter uns weitere Schritte. Auch von dort kam jemand näher.
    Faustus winkte Angelina heran und raunte ihr etwas ins Ohr. Gleich darauf reichte sie ihm Schwert und Fackel. Faustus nahm beides und sprang mit weiten Sätzen in die Dunkelheit, dorthin, wo er den Unbekannten vermutete. Schon nach wenigen Schritten sahen wir nur noch die hüpfende Fackel,

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