Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
sich zur Freitreppe, die hinab in den alten Schloßgarten führte. Ohne ein Wort stieg er die Stufen hinab, während wir alle ihm angstvoll und erstaunt hinterhersahen.
»Wohin geht er?« flüsterte ich.
Faustus stützte sich mit einer Hand auf die Brüstung. Plötzlich schien eine ungeheure Last von seinen Schultern zu weichen. »Er verläßt uns«, sagte er leise. »Er hat genug gesehen.«
»Was meint Ihr damit?« wollte ich wissen, und für einen Augenblick schien alles andere vergessen. Jetzt war er wieder mein weiser Meister, der auf alles eine Antwort wußte, nicht der Verbündete einer Mörderin.
Faustus wollte etwas erwidern, doch im selben Augenblick sprang ein schwarzer Hund aus den Büschen des Gartens und lief auf den Traumvater zu. Die rotglühenden Augen des Tieres zogen bei jeder Bewegung leuchtende Schlieren durch die Finsternis.
»Mephisto!« rief ich erstaunt.
Faustus schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht Mephisto.«
»Nicht?« Verdutzt starrte ich auf den Hund, der sich zum Traumvater gesellte und mit ihm im Dunkeln verschwand.
»Später«, entgegnete Faustus nur. »Ich werde euch alles erklären, aber nicht jetzt.« Damit drehte er sich um und schob Angelinas Schwert mit einer rabiaten Handbewegung zur Seite. Er reichte Delphine galant eine Hand und zog sie auf die Beine.
Angelinas Augen verengten sich empört, doch sie machte keine Anstalten, die Hellseherin erneut anzugreifen. Irgend etwas war ganz und gar nicht so, wie wir glaubten. Ich hätte nicht sagen können, was wir übersehen hatten, aber da war etwas, vielleicht nur eine Kleinigkeit, die erst innerhalb des Ganzen an Bedeutung gewann.
»Hast du sie?« fragte Faustus Delphine geheimnisvoll.
Sie nickte. »Ich weiß, wo sie ist.«
Zum ersten Mal betrachtete ich die Wahrsagerin genauer. Sie war unzweifelhaft einige Jahre älter als Faustus, besaß aber jetzt noch die Anmut eines jungen Mädchens. Das scheinbare Weiß ihres Haars entpuppte sich aus der Nähe als leuchtendes Hellblond. Es war völlig aus der hochgetürmten Form geraten und hing ihr nun zu beiden Seiten des Gesichts in geringelten Strähnen herunter. Dadurch gewann sie ein gehöriges Maß an Natürlichkeit, die sie noch schöner machte.
»Wo ist Bosch?« fragte Faustus an mich gewandt.
»Zuletzt sahen wir ihn in seinem Zimmer.«
Er nickte gedankenvoll und sagte dann zu Delphine: »Kannst du uns zu ihr führen? Jetzt?«
»Ich habe sie selbst noch gar nicht gesehen«, erwiderte die Hellseherin. »Aber ich kenne jetzt das Versteck. Gwen hält davor Wache.«
»Gwen?« fragte ich entgeistert.
Niemand hielt es für nötig, zu antworten, weder Delphine noch Faustus. Ich sah Angelina an und spürte, wie zornig sie war. Und natürlich hatte sie recht: Es war längst an der Zeit, uns ins Vertrauen zu ziehen. Zudem konnte ich mir weiß Gott Angenehmeres vorstellen, als mein Leben einer Mörderin anzuvertrauen.
Faustus schien damit keine Schwierigkeiten zu haben. Als Delphine ins Haus trat, folgte er ihr bereitwillig und gab uns Zeichen, es ihm gleichzutun.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und hielt ihn am Arm zurück, eine mehr als gewagte Geste. Statt Wut lag jedoch Ungeduld in seinem Blick, als er mich ansah. »Was ist denn?« fragte er leise.
»Herr, diese Frau hat mehrere Menschen ermordet. Ihr könnt nicht erwarten, daß – «
»Wagner«, unterbrach er mich belustigt, »lieber Wagner! Glaubst du denn wirklich noch immer, Delphine sei die Mörderin? Und du, Angelina, was denkst du? Ah, ich sehe schon, ihr seid natürlich einer Meinung. Aber vertraut mir und kommt mit. Ich verspreche euch, ihr sollt alles erfahren, doch jetzt ist erst Eile geboten. Die Gefahr ist keineswegs gebannt. Ich will so schnell wie möglich fort von hier.«
Angelina und ich wechselten einen Blick fassungslosen Erstaunens, und nun war sie nicht mehr die einzige, die sprachlos war. Keiner von uns verstand irgend etwas von dem, was hier vorging.
»Kommt endlich, wir müssen uns beeilen!« zischte Delphine, während sie bereits mit großen Schritten den Saal durchmaß.
Ich warf all mein Mißtrauen und meine Vorbehalte über Bord, stieß Angelina auffordernd mit dem Ellbogen an und beeilte mich, den beiden zu folgen. Sie blieb noch einen Augenblick stehen, überwand dann ebenfalls ihre Ablehnung und lief neben mir her. Keinem von uns war wohl dabei, doch es schien die beste Lösung. Faustus würde, gleichgültig, um was es ging, nicht so weit gehen, uns etwas anzutun. Die Frage war
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