Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
rechteckig und von einem verwinkelten, vielgiebeligen Dach gekrönt. Das Haus stand auf einem hohen Sockel, an dem eine verfallene Freitreppe hinaufführte. Hinter einigen der hohen Spitzbogenfenster im Erdgeschoß flimmerte fahler Kerzenschein.
An der rechten Seite des Haupthauses stand ein hoher Bergfried, der vor Urzeiten zur Hälfte in sich zusammengestürzt war. Es standen nur noch zwei der einstmals vier Turmwände, und während von den fehlenden Mauern kaum mehr Trümmer zu sehen waren, hatten sich die beiden übrigen bis hinauf zu den Zinnen vollständig erhalten. An ihren Innenseiten waren noch die Reste steinerner Stufen zu erkennen.
Rund um Haus und Bergfried gab es eine Vielzahl zerborstener Mauerzacken, die aus einer wildwuchernden Wiese ragten. Einstmals mußten das Nebengebäude gewesen sein. Nun aber war außer vereinzelten Wänden, einsamen Torbögen und Steinhaufen nichts davon übriggeblieben. Sie alle schimmerten im Mondlicht wie Silber.
Die Anlage war riesig; das ließen selbst ihre Ruinen erkennen. Ihr Anblick war gleichermaßen unheimlich wie beeindruckend. Wie, um alles in der Welt, konnte man ein so gewaltiges Bauwerk vor Neugierigen und Schatzsuchern verborgen halten?
Statt schnurstracks auf das Haupthaus zuzureiten, wie ich eigentlich erwartet hatte, wandte Faustus sein Pferd nach links. Wir folgten ihm entlang des Waldrandes und bestaunten dabei die Weitläufigkeit des verfallenen Geländes. Das Gras reichte den Pferden fast bis zum Bauch, und allerlei Gewächsranken hatten die Mauerreste und Trümmer in ihre knotigen Arme genommen. Gelegentlich stießen wir auf die Überbleibsel einstmals prächtiger Statuen, die auf Sockeln aus dem Dickicht ragten. Da wandten sich steinerne Arme flehend zum Himmel, und leere Augen starrten uns leblos entgegen. In ihrem sterbenden Prunk ähnelten diese Gärten nichts, was ich bislang gesehen hatte.
Wir erreichten ein weiteres Gebäude, das die Prüfungen der Zeit überstanden hatte. Es war ungleich kleiner als das Haupthaus und stand fern davon am Rande des Schloßgartens. Faustus stieg vom Pferd und forderte uns auf, es ihm gleichzutun. Er trat an die Eingangstür und gab ihr einen vorsichtigen Stoß. Knirschend schwang sie nach innen.
»Das Gästehaus«, sagte er. »Ihr werdet hier auf mich warten, während ich mich im Haupthaus umsehe.«
Ich blickte zweifelnd in den schwarzen Türspalt und nahm eine Prise der muffigen, abgestandenen Luft, die uns daraus entgegenschlug. »Warum sollen wir uns trennen?« fragte ich. »Wäre es nicht klüger, an einem solchen Ort beieinander zu bleiben? Wir könnten mit Euch gehen.«
»Unter keinen Umständen«, erwiderte Faustus eilig und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ihr werdet Euch vom Hauptgebäude fernhalten, ganz gleich, was geschieht. Habt ihr das verstanden?«
Angelina zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Ich selbst war aber keineswegs bereit, mich so schnell geschlagen zu geben. »Herr, erklärt uns wenigstens, was Ihr vorhabt. Müssen wir um Euer Leben fürchten?«
Faustus, der sehr wohl begriff, daß ich zuvorderst um mein eigenes Wohlergehen fürchtete, lächelte schwach. »Hab keine Angst«, sagte er und wußte dabei ganz genau, welchen Stich mir diese Worte in Angelinas Gegenwart versetzten. »Ich werde bald schon zurückkehren und entscheiden, was weiter geschehen soll. Möglicherweise sind meine Angelegenheiten an diesem Ort dann längst erledigt.«
Natürlich glaubte ich ihm kein Wort. Er hatte keinen so weiten Weg in Kauf genommen, um dann nach wenigen Stunden wieder aufzubrechen.
»Ihr laßt Euch nicht erweichen, was?« stellte ich mit dünner Stimme fest.
Er schüttelte den Kopf. »Ihr wartet hier, dabei bleibt es. Ich werde euch Nachricht geben, wenn es an der Zeit ist.«
Angelina war bereits im Haus verschwunden, als sei es ihr ganz und gar egal, was er vorhatte. Ich aber blieb draußen stehen und sah wortlos zu, wie Faustus sein Pferd bestieg, die unseren an den Zügeln packte und mit allen drei Tieren in Richtung der Schloßruine davonritt.
Täuschte ich mich, oder waren da riesige Umrisse, die sich hinter den trübschimmernden Fenstern bewegten? Ein Ball, auf dem nur die Schatten tanzten.
Ein Rascheln in meinem Rücken ließ mich herumwirbeln.
»Angelina?« flüsterte ich zaghaft.
Das Mädchen war nirgends zu sehen. Statt dessen starrten mich rote Augen an, glühend in der Finsternis jenseits der Bäume.
Zugleich löste sich Angelina aus dem Hauseingang.
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