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Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatte ich wohl mein Geschick überschätzt. Ich verlor meinen Halt, fiel nach hinten und schlug der Länge nach auf den Boden.
    Fluchend und mit schmerzendem Schädel wagte ich einen zweiten Anlauf. Diesmal gelang es mir besser, und ich konnte mich unter Keuchen und Stöhnen hinauf auf den Dachboden hangeln. Angelina war nirgends zu sehen, wohl aber ihre Fackel; sie hatte sie leichtsinnig zwischen zwei Dachbalken geklemmt. Die Flammen leckten bereits bis wenige Fingerbreit unter das ausgetrocknete Holz. Nicht mehr lange, und der ganze Dachstuhl würde brennen wie Zunder.
    Ehe es soweit kommen konnte, zog ich die Fackel hervor und leuchtete mit ihr im Halbrund über den Speicher. Angelina war immer noch nirgends zu sehen. Wohl aber entdeckte ich etwas anderes: Nur wenige Schritte von der Dachluke entfernt hatte sich jemand aus Decken eine Schlafstatt bereitet. Der Stoff war zerwühlt. Daneben lag ein offenes Bündel mit zwei, drei Kleidungsstücken, einem dickleibigen Buch, in Leder gebunden, und einem Kamm. Jenes Utensil schien mir ein Anzeichen dafür, daß es sich beim Bewohner dieses Dachbodens um eine Frau handeln mußte. Sie selbst aber war, ebenso wie meine Gefährtin, verschwunden.
    Neben der Stelle, an der Angelina die Fackel zurückgelassen hatte, klaffte ein Durchbruch im Dach. Er stammte nicht von ihr – die Bruchstellen im Holz waren alt und spröde –, und doch war es der einzige Weg, auf dem sie den Speicher verlassen konnte.
    Die Katze schrie erneut. Diesmal klang es lauter, näher. Das anschließende Wimmern kam eindeutig vom Dach.
    Vorsichtig streckte ich meinen Kopf durch die Öffnung und blickte mich um. Die Schräge wirkte an ihrer Außenseite sehr viel steiler als von innen. Die Dachziegeln waren mit grünbraunem Moos bewachsen.
    Angelina stand hoch oben auf dem Dachfirst. Ohne Mühe hielt sie ihren zierlichen Körper im Gleichgewicht. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging auf den Kamin des Gästehauses zu, ein massiver Steinturm, den zwei Männer nicht mit ihren Armen hätten umfassen können. Er ragte mannshoch über das Dach hinaus. Auf seiner Spitze saß die schwarze Katze und kreischte von neuem. Der Laut fuhr mir bis ins Mark.
    Ich rief Angelina zu, sie solle umkehren und zurückkommen. Es sei doch nur eine verdammte Katze.
    Sie tat, als höre sie mich nicht.
    Die Katze verlegte sich nun auf leises Maunzen. Sie hatte Angst. Offenbar war sie dort heraufgesprungen und wagte sich nicht mehr hinunter. Sie starrte Angelina an und ahnte wohl, daß jemand zu ihrer Rettung eilte. Es war ein seltsames Bild.
    Ich hatte bereits erlebt, mit welch unglaublichem Geschick Angelina es verstand, in Baumkronen von Ast zu Ast zu springen, fast, als könnte sie fliegen. Sie schien keinerlei Scheu vor großen Höhen zu haben, und das mochte ihr die völlige Gewißheit geben, daß sie nicht fallen würde. Sie zögerte nicht, zitterte nicht. Machte einfach nur einen Schritt nach dem anderen.
    Vielleicht schafft sie es wirklich, dachte ich. Aber war es das wert? Ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nur um eine verwilderte Katze zu retten?
    Wobei das Tier so verwildert nicht aussah. Sein schwarzes Fell glänzte, und es hatte keine sichtbaren Wunden oder Narben, wie sie zweifellos jedes Lebewesen davontrug, das im Wald ums Überleben kämpfte.
    Angelina war jetzt noch zwei Schritte vom Kamin entfernt, schräg über mir.
    Und plötzlich wußte ich, daß sie fallen würde.
    Es war keine Ahnung, keine vage Befürchtung. Was ich spürte, war völlige Gewißheit.
    Angelina würde fallen. Es waren mindestens zwölf Schritte bis zum Boden.
    Meine Stimme setzte aus, als ich sie warnen wollte. Es war, als weigerten sich die Worte, meine Kehle zu verlassen.
    Angelina stellte sich auf Zehenspitzen. Sie streckte den Arm nach der Katze aus.
    Das Tier machte einen Buckel und starrte sie an.
    Ich wollte mich an einigen Dachziegeln aus der Öffnung ziehen, doch das Moos war spiegelglatt. Meine Finger rutschten ab, ich sank zurück in die Öffnung.
    Die Katze hatte aufgehört zu jammern. Jetzt fauchte sie.
    Angelinas Finger waren kaum noch eine Handbreit von ihr entfernt.
    Sie würden beide abstürzen, schoß es mir durch den Kopf. Alle beide.
    Angelina reckte sich weiter hinauf. Nur noch ihre Zehenspitzen berührten den Dachfirst. Sie schien fast zu schweben.
    Die Katze kreischte gellend auf. Ihre Vorderpfote schoß vor und schlug nach Angelinas Hand. Es mag Einbildung gewesen sein, doch ich glaubte, das Funkeln ihrer

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