Die neue Rasse
Hilfe. Und es war niemand dagewesen, der ihr auf die Füße geholfen hätte. Niemand wollte das Risiko eingehen, sich im Versuch, ihr die Hand zu reichen, mit hinabziehen zu lassen in den Morast, der unter dem dünnen Glitzerschein lauerte, den alle Welt für das wahre New York hielt.
Vielleicht hatte ihr Bruder Pete den richtigen Weg eingeschlagen. Er war nach Alaska gegangen, hatte dort sein nie näher benanntes Glück finden wollen. Ob er es gefunden hatte, wußte Marisa nicht. Der Kontakt zu Pete war vor Monaten abgerissen. Aber sie hoffte es. Und sie hoffte weiter, daß Petes Glück groß genug war, damit ein Stück, ein winzigkleines nur, für sie davon abfallen konnte.
Wie sie den verlorenen Bruder in der gewaltigen Weite Alaskas ausfindig machen wollte, wußte Marisa noch nicht. Darüber konnte sie sich den Kopf zerbrechen, wenn sie erst da war.
Wenn sie nur endlich da wäre .
Für ein paar Minuten hatte Marisa die Finsternis ringsum und all das, was sie an Furchteinflößendem beherbergte, vergessen können. Die Gedanken an Pete und ein vielleicht besseres Leben hatten genügt, ihr etwas wie Geborgenheit und Hoffnung zu suggerieren. Doch ein Geräusch, das sich nicht in die rumorende Klangkulisse um sie her einfügen wollte, hatte sie aus ihren Wachträumen gerissen.
Ein dumpfer Schlag war auf der anderen Seite des stockdunklen Raumes aufgeklungen und wieder verstummt. Und war nicht auch, für einen ganz kurzen Moment, ein fahler, kaum sichtbarer Lichtschein durch die Schwärze gegeistert? Als wäre die Tür nach draußen geöffnet worden? Und dieses seltsam weiche und doch metallene tock tock tock, klang es nicht wie ... Schritte, die sich ihrem Versteck näherten?
Marisa schluckte, und obwohl sie darauf vorbereitet gewesen war, begann sie zu zittern, als hockte sie nicht hier in der relativen Sicherheit des Schiffsbauches, sondern nackt draußen im tobenden Sturm, der nach wie vor mit Brachialgewalt gegen die Stahlwand in ihrem Rücken anging.
Mußte sie nun die erste Rate für ihre Passage zahlen?
Kam er jetzt?
Ein Schemen, der sich selbst in der völligen Finsternis noch dunkler abzeichnete, schob sich heran.
Etwas kam .
* Sie hatten den Homunkulus nicht gefunden.
Weder tot noch lebend.
Und auch keinen Hinweis auf seinen Verbleib.
Das Feuer in der Church of St. Margret war fast schon verloschen gewesen, als Lilith mit Reuven Lamarr im Schlepp sie betreten hatte. Die Flammen hatten das feuchte Holz der Bänke eher verkohlt denn verbrannt; nur die wenigen Teppiche auf dem steinernen Boden und ein paar Figuren waren wirklich ein Raub des Feuers geworden.
Selbst die nackte Leiche des Priesters, Father Cyrill, wie Lilith von Reuven erfahren hatte, war verschont geblieben.
Dafür hatte Lilith sich gefühlt, als würde ihre Haut heißer und heißer werden. Als liefe sie über die fast glühende Platte eines riesigen Herdes. Der geweihte Boden unter ihr und die ringsum sicht- und spürbaren Zeichen christlichen Glaubens machten dem vampirischen Teil in ihr sekündlich mehr zu schaffen. Deshalb hatte sie, sobald sie festgestellt hatten, daß der Gen-Vampir entkommen war, zum Aufbruch gedrängt und die Kirche schleunigst verlassen.
Sie hatte Reuven Lamarr dazu bewegt, sie weiter zu begleiten, in der Hoffnung, seine Ortskenntnis könnte ihr nutzen. Doch wohin sie sich auch gewandt hatten, sie konnten nichts entdecken, was Aufschluß über den Verbleib des Vampirs aus der Retorte gegeben hätte.
Zum einen war Lilith darüber nicht ganz unfroh. Denn immerhin hätte eine Spur wohl zwangsläufig weitere Tote bedeutet. Andererseits wußte sie nur zu genau, daß diese Beruhigung in höchstem Maße fadenscheinig war. Denn buchstäblich jeden Moment konnte der Homunkulus wieder zuschlagen.
Irgendwo.
Und Lilith blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, daß er es tat. Denn so furchtbar es auch war, nur so konnte sie seine Fährte wiederfinden.
Wenn er blutige Spuren hinterließ .
Ihre Gedanken drehten sich in schmerzhaft engen Kreisen. Und so war es ihr auch kaum möglich, das richtig zu genießen, was Reuven Lamarr mit ihr tat.
Sie waren zu ihm gegangen, als Lilith hatte einsehen müssen, daß sie nichts mehr tun konnte. Reuven hatte sie darum gebeten, ihn zu begleiten. Aus fast freien Stücken .
Jetzt befanden sie sich in seiner Einzimmer-Souterrain-Wohnung im Norden von Brooklyn, und während sich draußen nach wie vor das Gewitter entlud, versuchte Reuven in Lilith einen Sturm ganz
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