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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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essentialistischen Einheiten, sondern beruhen weithin auf der sozialen Erfindung kultureller Traditionen. Die dreifache Ergänzung der Weberschen Konstanten hat das Interpretationsschema weiter differenziert, umfassender, elastischer gemacht.
    Noch entschiedener als Weber hat der französische Soziologe Émile Durkheim, ein weiterer Gründungsklassiker der modernen Sozialwissenschaft, seine Gegenposition zu Marx entfaltet, da nach seiner Auffassung alle Gesellschaften durch ihr Wertesystem nicht nur integriert, vielmehr geradezu konstituiert werden. Damit postulierte er einen neuen Primat, der sich von Marx’ Historischem Materialismus und den drei Achsen Webers scharf abhebt, aber in dichter Nähe zum Vorrang der Ideenwelt des deutschen Historismus steht. Durkheims Grundproblem ist die Gewährleistung von gesellschaftlicher Ordnung, um den aus dem individuellen Egoismus hervorgehenden Hobbesschen Krieg aller gegen alle zu vermeiden. Ordnung wird aber, das ist der Kern seiner Überlegungen, geschaffen und aufrechterhalten allein durch den normativen Konsens, der im «kollektiven Bewusstsein» verankert ist – eine historisch variable Größe, die ursprünglich überall aus der Matrix der Religionen hervorgeht.
    Schichtungsspezifische Wertsysteme tragen nach Durkheim auch zur Integration der einzelnen sozialen Formationen bei, und diese Systeme müssen wiederum untereinander kompatibel sein, um die gesamtgesellschaftliche Kohäsion gegen die desintegrierende Arbeitsteilung auf Dauer aufrechtzuerhalten. Stellt der für alle Individuen geltende Leistungsimperativ den schichtspezifischen Wertekanon in Frage, kann das im Grenzfall zu Orientierungslosigkeit, zur Anomie führen. Im Allgemeinen steht ihr aber Durkheims Wertekodex entgegen, denn er ist eng mit der Funktions- und Rollendifferenzierung innerhalb einer Gesellschaft verkoppelt. Er legitimiert in der Regel ihre wichtigen und diskriminiert ihre unwichtigen Funktionen. Soziale Ungleichheit ist daher, so gesehen, notwendig, um der Hierarchie der extrem unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbedürfnisse gerecht zu werden, indem die kompetenten Rollenträger auf sie hingelenkt werden. Angesehener Status heftet sich zwangsläufig an gesellschaftlich privilegierte Funktionen, und da Status eine knappe, darum heiß begehrte Ressource ist, wird er zum wichtigsten sozialen Unterscheidungsmerkmal. Das Stratifikationssystem als Statushierarchie fungiert mithin als Anreiz für die Akzeptanz der gesellschaftlichen Rollenverteilung.
    Durkheim gilt zu Recht als Vater jener Theoriefamilie, welche die Stratifikationsordnung streng funktionalistisch interpretiert. Die selbstadaptive Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft in einem ausbalancierten, stets zum Gleichgewichtszustand tendierenden System – das ist ihre regulative Idee. Dem Imperativ der Erhaltung gesellschaftsstabilisierender Strukturen entsprechend müssen unverzichtbare Funktionen angemessen wahrgenommen werden, und in diesem System prästabilisierter Harmonie geschieht das auch durchweg dank dem wohltätigen Prozess der Systemerhaltung.
    Talcott Parsons, seine Schüler Robert K. Merton und Kingsley Davis haben zusammen mit zahlreichen anderen Adepten im Ambiente der relativ konfliktarmen amerikanischen Dauerkonjunktur während der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte diese auf Konsens und heterogener Leistungsfähigkeit beruhende strukturfunktionalistische Deutung der Sozialen Ungleichheit verfochten. Sie gewann zeitweilig eine erhebliche akademische Resonanz, weil sie der fortschrittsgläubigen, sozialharmonischen Mentalität ihrer Anhänger weit entgegenkam.
    Aufgrund der Auswirkungen einer überzeugenden Kritik, die diesem Funktionalismus zu Recht die Tendenz vorwarf, die harten Konsequenzen der Macht- und Herrschaftsverteilung, die Barrieren der ökonomischen Klassenlagen und ethnischkulturellen Divergenzen, die relative Autonomie der «Weltbilder» und Normensysteme, den Einfluss von Geschlecht, Alter und ethnischer Zugehörigkeit unterschätzt oder sogar völlig ignoriert zu haben, ließ ihr Einfluss aber ebenso nach wie aufgrund der seit den späten 1960er Jahren veränderten gesellschaftlichen Konstellation in den Vereinigten Staaten selber. Von dem hochgemuten Anspruch des Strukturfunktionalismus ist inzwischen nicht mehr viel übrig geblieben, von seinen empirischen Studien nur eine Reihe von Arbeiten zur sozialen Mobilität, wo die Aufstiegsdynamik (die ebenfalls stets präsente

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