Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Abstiegsdynamik wurde fast regelmäßig ignoriert) auf mysteriöse Weise zugunsten der Funktionserfüllung tätig war.
Und dennoch: Befreit man den Strukturfunktionalismus von seinen übermäßig hochgeschraubten Ansprüchen und historisiert man konsequent seine universalisierten Denkfiguren und den Untersuchungsgegenstand, kann die Stratifikationsanalyse von ihm noch manches lernen, zumal er dazu zwingt, die eigenen theoretischen Prämissen zu überprüfen, die Bedeutung verhaltensleitender Wertsysteme ganz à la Weber und Durkheim ernst zu nehmen und nach den Ursachen der keineswegs selbstverständlichen Kohäsionskraft von Gesellschaften zu fragen. Daher wirkt es nicht nur voreilig, sondern als Ausdruck unfundierter Arroganz, wenn dem Strukturfunktionalismus nur mehr ein klägliches Begräbnis attestiert wird.
Einen Zugewinn hat in den letzten Jahren die Debatte über die Einführung der «neuen Kulturgeschichte» oder «historischen Kulturwissenschaft» gebracht, allgemeiner gesagt: die Aufwertung von «Kultur» durch den «linguistic turn», den erkenntnistheoretischen Relativen Konstruktivismus und andere Spielarten der «postmodernen» oder «poststrukturalistischen» Theoriediskussion.[ 5 ] In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive besitzt dieser Zugewinn jedoch nur wenige neuartige Züge. Denn im Kern handelt es sich zum einen um die Wiederanknüpfung an die Sprachphilosophie des Historismus, erweitert freilich um die strukturalistische Sprachtheorie Ferdinand de Saussures und seiner späten Anhänger, zum anderen um die Renaissance der neukantianischen Erkenntnistheorie um 1900. (Über die bizarren Exzesse des Radikalen Konstruktivismus, demzufolge die ganze Welt nurmehr ein Text sein soll, und über die Realitätsferne des ahistorischen Theorieimperialismus einiger postmoderner Literaturwissenschaftler und Philosophen kann man hier stillschweigend hinweggehen.)
Die Erweiterung erkenntnisleitender Interessen, damit auch der theoretischen Forschungsperspektiven besteht daher nicht aus einem eindeutigen Fortschritt, sondern aus der (manchen Debatteteilnehmern offenbar unbekannten) Rückkehr zu einer Grundeinsicht der neukantianischen, mithin auch der Weberschen Erkenntnistheorie, dass nämlich zur doppelten Konstituierung von Wirklichkeit außer der Wirkung der realhistorischen Prozesse auch immer die Dimension gehört, wie der Sprachhaushalt und die Ideenwelt, die Realitätsperzeption, die «Weltbilder» der historischen Akteure diese Wirklichkeit mitbestimmen. Diese Einsicht, auf welche die Hermeneutik des Historismus und die «verstehende Soziologie» Webers solchen Wert gelegt haben, ist im Verlauf der empirischen Forschungsarbeit von Historikern und Soziologen, die sich auf die «Realien» konzentriert haben, häufig zu sehr zurückgetreten oder sogar ganz verloren gegangen, so dass sie heute wieder innovativ wirkt – und das faktisch auch sein kann. Sogar bei der Wiederentdeckung Webers seit den 1950er Jahren kam öfters ein handlungstheoretisch «halbierter» Weber zur Geltung. Insofern hat die «kulturalistische Wende» zu einer bereits vor hundert Jahren als notwendig erkannten Vervollständigung des theoretischen Ansatzes auch in der Stratifikationsanalyse geführt.
Inzwischen ist erneut klar geworden, in welchem Maße die Interpretation des realhistorischen Prozesses von dem Begriffsinstrumentarium der Zeitgenossen, von ihrer Wahrnehmung, von der Deutungsmacht ihrer dabei ins Spiel kommenden «Weltbilder» abhängt. So kann etwa eine moderne marktbedingte Klassengesellschaft in den Weberschen Klassenbegriffen, in sozialpartnerschaftlichen, gradualistischen Schichtungsbegriffen, in sozialromantischen Ständebegriffen oder in der Sprache der mobilitätsoffenen «nivellierten Mittelstandsgesellschaft» ganz unterschiedlich gedeutet werden. Und akzeptable Interpretationen vermögen dann wiederum das Handeln von Individuen oder Verbänden verbindlich anzuleiten. Kurzum: Die Ungleichheitsforschung kann aus einem sprachanalytisch, begriffs- und ideengeschichtlich erweiterten Kategoriensystem nur Gewinn ziehen, sofern es diszipliniert verwendet wird und seinerseits nicht einen illusionären Monopolanspruch geltend macht.
Zu den neuen Strömungen in der Stratifikationsforschung gehört auch die Lebensstilanalyse, die ziemlich umstandslos aus der amerikanischen Konsumforschung übernommen worden ist. Unabhängig von ihr, gelegentlich aber auch mit ihr verbunden, ist zudem der Anspruch angemeldet
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