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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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worden, einen neuartigen Gesellschaftstypus ausgemacht zu haben, die «Erlebnisgesellschaft» oder die «Risikogesellschaft», die sich beide von der modernen Markt- und Klassengesellschaft strukturell unterscheiden sollen. Die Lebensstilforschung geht von der Prämisse einer vermeintlich unwiderstehlichen Pluralisierung und Individualisierung aller Modi der Lebensführung in den westlichen Industriestaaten aus. Dadurch würden, heißt es, überkommene Klassengrenzen nicht nur verwischt, sondern geradezu aufgehoben. Denn der Lebensstil ist zwar an Generationen gebunden, gilt aber als ein klassenübergreifendes Phänomen. Jeder kann sich angesichts des dramatisch angehobenen Wohlstandsniveaus dieser Länder je nach der generationellen Präferenz modische Kleidung, modische Elektronik, modische Wohnungseinrichtung, modische Musik, modische Ferienorte gönnen. Vor dieser Gemeinsamkeit der friedlich koexistierenden Lebensstile verschwinden angeblich die Unterschiede der sozialen und beruflichen Herkunft, der Prägung durch sozialmoralische Milieus und soziale Klassen.
    Tatsächlich gibt es eine bunt aufgelockerte Vielfalt der Lebensstile und die einem verwirrenden Angebot folgende hektische Jagd der jüngeren Generationen nach «Erlebnissen» in den westlichen Gesellschaften; sie sind ganz so unübersehbar vorhanden wie der modische Uniformierungstrend etwa der Dresscodes. Diese Vielfalt wirkt auch auf die Selbsteinschätzung und soziale Verortung ihrer Mitglieder ein. Doch sie ist ebenso unwiderlegbar an die materiellen und mentalen Ressourcen der marktbedingten Klassen gebunden, die weiterhin harte Grenzen des Lebensstils markieren: die neueste Jeansmode für jedermann, Armani, Rolex und Ferrari jedoch für kleine Eliten, deren aufwendiger «demonstrativer Konsum» sie als solche sichtbar ausweist. Die nüchterne empirische Sozialstrukturforschung zeigt eindeutig, dass die bunten Tupfer unterschiedlicher Lebensstile die harten Strukturen Sozialer Ungleichheit nur unwesentlich beeinflussen. Krass ungleiche Einkommen, ungleiche Machtchancen, ungleiche Bildungswege, ungleiche Prestigezuweisungen bleiben weiterhin bestehen und formen die Alltagswelt.
    Die faszinierende Frage Pierre Bourdieus dagegen, ob Klassenkonflikte um Macht und Herrschaft nicht als Wettbewerb um den überlegenen Lebensstil der «Distinktionsklassen» ausgetragen werden, ist – abgesehen von Bourdieus empirischer Antwort für Frankreich – von der internationalen Ungleichheitsforschung noch viel zu selten, erst Recht nicht konsequent und vergleichend, aufgegriffen worden. Die Lebensstilforschung demonstriert überdies eindringlich, welchen Preis die Soziologie zahlen muss, wenn sie auf den bewährten konzeptionellen Nexus zwischen Wirtschafts- und Sozialverfassung weithin verzichtet, stattdessen aber den kaleidoskopartigen Wechsel von Oberflächenphänomenen für einen Strukturwandel ausgibt.
    Noch weniger erklärungskräftig ist das Konzept der «Risikogesellschaft», obwohl es im Stil des gehobenen Feuilletons mit glitzernden Wortkaskaden verteidigt worden ist. Denn es fingiert die existenzprägende Durchsetzungskraft allgegenwärtiger Gefahren, die etwa aus der Umweltausbeutung, der Luft- und Wasserverschmutzung, dem Massenverkehr, dem Rüstungswettlauf, den tödlichen Massenkrankheiten hervorgehen. Angeblich ist jedermann diesen Risiken ausgesetzt, alle sind Opfer einer Entwicklung, welche die düstere Kehrseite des janusköpfigen industriellen Fortschritts und der Globalisierung enthüllt. Kein Wunder, dass die «Risikogesellschaft» im Gefolge der Angstpsychose der Friedensbewegung und der Tschernobylkritik in den 80er Jahren zeitweilig zum Modethema aufstieg.
    Unstreitig haben die industriellen Gesellschaften ihr eigenes, schwer zu zähmendes Gefahrenpotential aufgebaut, das häufig die Klassengrenzen nicht respektiert. Insofern ist eine Kritik berechtigt, die auf den nicht intendierten verhängnisvollen Folgen dieser Entwicklung insistiert. Nicht ignoriert werden kann jedoch, dass es bei näherem Hinsehen zum einen doch gravierende, durchaus klassenspezifische Unterschiede gibt, was das Ausmaß der Betroffenheit und die Reaktionen auf sie angeht («Wer arm ist, muss früher sterben»). Zum andern gibt es klassenunterschiedliche Ressourcen, um die Risiken einzudämmen, zu vermindern oder ganz zu vermeiden. Der Grad des Gefahreneffekts und die Verteidigungschance verweisen alsbald wieder auf die klassenspezifisch unterschiedliche Brechung des

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