Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Berufsklassen hervorgehende, umfassende, im Grenzfall auch handlungsfähige Verbände berücksichtigt werden.
Weber hat sich keineswegs auf der Linie der geläufigen historischen Unterscheidung zwischen mittelalterlichen Ständen und neuzeitlichen Klassen dafür entschieden, die Entwicklung der Klassengeschichte als das große Thema der Ungleichheitsanalyse anzusehen. Vielmehr ging er von der prinzipiellen theoretischen Annahme aus, dass die Sozialstruktur von Herrschaftsverbänden gewöhnlich durch ein Mischungsverhältnis von «Klassenlage» und «ständischer Lage» gekennzeichnet ist.
In der politischen Neuzeit des Westens bezieht sich die Klassenlage in der Regel auf marktbedingte Klassen mit ihren von «Besitz- oder Leistungsqualifikation abhängigen Versorgungs- und Erwerbschancen» mit allen «daraus folgenden allgemein typischen Lebensbedingungen». Die ständische Lage dagegen, die durchaus aus der historischen Erfahrung mit den privilegierten Ständen des europäischen Mittelalters hergeleitet wird, ist vor allem durch «Unterschiede und die Art der Lebensführung» und die damit zusammenhängende «positive oder negative soziale Ehre» charakterisiert. Sie steht in einem typischen Zusammenhang mit dem Abstammungs- und Berufsprestige, mit dem «rechtlich gesicherten Monopol auf Herrenrechte, Einkommen und Erwerbschancen», mit rituell stereotypierten Konventionen wie dem exklusiv regulierten Konnubium und Kommerzium, so dass als Stand, gleich welcher historischer Epoche, eine unter diesen Bedingungen «vergesellschaftete Menschengruppe» gilt. Weber geht gelegentlich sogar so weit, die ständische Lage oder das Prestigegefälle «die soziale Ordnung» schlechthin zu nennen.
In der Geschichte treten Klassenlagen und ständische Lagen häufig gleichzeitig, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität auf. In Zeiten eines rapiden ökonomischtechnologischen Umbruchs etwa drängt sich, so hat übrigens auch Friedrich Engels argumentiert, die Klassenlage in den Vordergrund, während in Zeiten saturierter Stabilität die Prominenz ständischer Charakteristika in der Stratifikationsordnung hervortritt. Webers Überlegungen gestatten es daher, den wechselnden Rang ständischer Elemente nicht nur in der Ständegesellschaft der Vormoderne, sondern von den ersten Hochkulturen bis zur Gegenwart herauszuarbeiten. Weber galt z.B. das neuhumanistisch gebildete Bürgertum, in dem durchaus marktabhängige Erwerbs- und Berufsklassen dominierten, als typisch ständisch vergesellschaftete Formation. Die analytische Anerkennung dieser Zwillingsnatur der Sozialen Ungleichheit verschafft der Weberschen Hierarchietheorie von vornherein eine ungleich größere Spannweite und Differenzierungsfähigkeit als sie die Marxsche Theorie besitzt, selbst wenn diese von Neomarxisten ziemlich elastisch gehandhabt wird.
Überdies besitzt Webers Stratifikationstheorie einen evolutionstheoretischen Grundzug. Als explizit angegebenes Richtungskriterium der modernen Gesellschaftsentwicklung im Zeitalter des Kapitalismus gilt ihm der «Fortschritt» zur «klassengegliederten Gesellschaft». Sie ist jedoch nicht in das Prokrustesbett der Marxschen Geschichtsphilosophie gespannt, kennt weder einen säkularisierten Erlöser in Gestalt des Proletariats noch eine politische Utopie mit Endzeitprophezeiungen. Vielmehr respektiert Weber die große, gleichwohl nicht beliebige Bandbreite gerichteter Evolutionsprozesse, die aber durch technische Umwälzungen oder durch Charismatiker kontingent verändert werden können. Die Zukunft bleibt daher trotz aller einengenden Bedingungskonstellationen relativ offen.
Ungeachtet ihrer Meriten hat sich die Webersche Trias der Ungleichheit von Herrschaft oder Machtressourcen, ökonomischer Lage und sozialer Ehre in der empirischen, namentlich in der komparativen Forschung als eine doch noch erweiterungsbedürftige Konzeption erwiesen. Drei weitere Ungleichheitsdimensionen sind daraufhin zunehmend berücksichtigt worden: Die Unterschiede des Geschlechts, des Alters und der ethnischen Zugehörigkeit wirken in hohem Maße auf das Strukturgefüge der Sozialen Ungleichheit ein. Die anfängliche Neigung, sie als physiologische Qualitäten anzusehen, ihnen als vorgegebenen quasi-biologischen Bedingungen einen eigenen Geltungsbereich zuzuweisen, ist der Einsicht gewichen, dass Geschlecht und Alter auch, im gesellschaftlichen Kontext sogar vorrangig, soziale Konstrukte sind. Ethnische Verbände sind ebenfalls keine
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