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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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nach dem Zweiten Weltkrieg. Systemkritiker wie John A. Hobson und einige Mitglieder der «Fabian Society» folgten im Grunde einem um seine Geschichtstheologie reduzierten Marx. In Frankreich hielt sich bis Durkheim eine ökonomistische Klassentheorie in der Tradition der verschiedenen Spielarten des Frühsozialismus. In Deutschland besaßen prominente Köpfe der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie wie etwa Gustav Schmoller und Werner Sombart einen scharfen Blick für Soziale Ungleichheit, legten aber ihren Analysen uneingestanden ein quasi Marxsches, nur um die politischen und prognostischen Implikationen seiner Theorie gekapptes Modell zugrunde, das ausschlaggebend auf der ungleichen Distribution von Vermögen und Eigentum beruhte. In der adelsfreien hochmobilen Gesellschaft der Vereinigten Staaten regte sich noch nicht das dringende Bedürfnis nach einer genuin amerikanischen Schichtungstheorie, obwohl in dieser Marktgesellschaft katexochen scharf divergierende Besitz- und Erwerbsklassen überaus deutliche Konturen gewannen.
    Die überragende Figur in der Entwicklungsgeschichte auch der Stratifikationstheorien ist im 20. Jahrhundert Max Weber, dessen Beiträge zwischen 1890 und 1920 entstanden. Weber verstand sich sehr bewusst als bürgerlicher Anti-Marx, zollte aber auch als dezidiertes «Mitglied der bürgerlichen Klassen» dem großen Vorgänger seinen Respekt, mit dem ganz undogmatischen Urteil, dass sich die künftige Stellung eines jeden Gelehrten nach seinem Verhältnis zu Marx bemessen lasse. Über die damals erst zum Teil gedruckten Schriften von Marx und Engels, auch über die internationale marxistische Literatur besaß er, wie seine Werke-Edition zeigt, einen souveränen Überblick.
    Hatte Marx behauptet, er stelle Hegel mit seinem Vorrang der Ideenwelt vom Kopf auf die materiellen Füße, setzte Weber dem Historischen Materialismus Marxens zwar polemisch-pragmatisch den Primat der großen religiösen «Weltbilder» entgegen, die auch das ökonomische Handeln und den Aufbau ökonomischer Institutionen anleiteten. Theoretisch und empirisch ging er aber als Anhänger der konstruktivistischen neukantianischen Erkenntnistheorie von einer doppelten Konstituierung der «Wirklichkeit» aus. Zum einen wird sie durch überindividuelle, anonyme wirtschaftliche, soziale, demographische, politische, kulturelle Prozesse geschaffen, die von der Wissenschaft erfasst und erklärt werden können. Zum anderen wird ihre Wahrnehmung aber ebenfalls stets durch den Sprachhaushalt, die standortabhängige Perzeption, die «Weltbilder» der Individuen und großen Personenverbände strukturiert. Insbesondere Webers universalhistorisch vergleichende Religionssoziologie demonstriert auf äußerst eindrucksvolle Weise, wie weit er selber diesem hohen Anspruch, die «Doppelnatur» vergangener Realität in ihrer Komplexität zu erfassen, gerecht geworden ist.
    Eines der Hauptthemen in Webers labyrinthischem Werk ist die Herausbildung des nur im Westen entstehenden Kapitalismus. Deshalb gehört die Sozialstruktur des okzidentalen Kulturkreises zu seinen Interessenfeldern. Allerdings ist sein Werk ein Torso geblieben, und eine geschlossene Abhandlung oder gar eine Monographie zur Klassentheorie fehlt bekanntlich (genauso wie bei Marx), so dass seine Überlegungen aus dem Gesamtwerk herausdestilliert werden müssen. Das Unternehmen lohnt sich jedoch, da Webers Stratifikationstheorie systematisch und historisch so viele Vorzüge besitzt, dass sie – zumal sie wegen der Elastizität ihrer theoretischen und methodischen Prämissen ergänzungsfähig ist – bis heute den meisten konkurrierenden Theorien überlegen bleibt.
    Im Gegensatz zum Marxschen Primat des Produktionsprozesses geht Weber von der Annahme aus, dass Gesellschaften immer durch das Zusammenwirken von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur konstituiert werden; aus ihrer Interaktion geht auch die Achse der Sozialen Ungleichheit hervor. Den Primat einer dieser Dimensionen gibt es bei ihm nicht. Der historische Prozess wird gewöhnlich durch alle drei Dimensionen geprägt, freilich in variierender historischer Mischung und mit epochenspezifisch unterschiedlich starkem Einfluss. Erst die empirische Forschung kann nachweisen, welche Achse zu einer bestimmten Zeit in einer historischen Konstellation doch die Prävalenz besitzt.
    Weber zeigt eine ausgeprägte Neigung, Herrschaft, für ihn eine anthropologische Universalie, als die tendenziell dominierende, den anderen

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