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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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angestimmt wird, gibt ihm eine schmerzhafte Intensität.
    Zugleich wird das ländliche England in ein Verhältnis gesetzt zu den Ursprüngen des Erzählers in Trinidad und zu dessen Kolonialerziehung, die sein gesamtes Wissen über England konditioniert hat und sich nun als falsch herausstellt. All diese falschen Vorstellungen gilt es jetzt zu überwinden, mit dem Ziel einer Selbstbefreiung und Selbst-Rekonstruktion, um sich ein zweites Leben zu ermöglichen. Hier, in der Gestalt des entwurzelten Migranten aus Trinidad, begegnen wir abermals, wie schon in der «Generation Windrush», dem Topos «Eldorado». Auch hier wird die klassische Reise englischer Kolonisatoren und deren Suche nach dem Goldland umgekehrt, indem ein Kolonisierter von der Peripherie ins Herz des Empire einwandert, wo er den Goldschatz des wahren Lebens vermutet.
    Für «Das Rätsel der Ankunft» wählt Naipaul die Zirkelfigur als seine Erzählform. Das Buch endet scheinbar, wo es beginnt: mit der existenziellen Krise eines Schriftstellers um die vierzig, dessen Romanmanuskript, in das er Jahre leidenschaftlicher Arbeit investiert hat, vom Verlag abgelehnt wird. Diese Zurückweisung erschüttert ihn zutiefst. Er fühlt sich in seiner ganzen Person infrage gestellt – weit über die erwartbaren Gefühle von Schmerz, Zorn und verwundetem Stolz hinaus. Sein Selbstbild ist ins Wanken geraten, er fühlt sich erschöpft, unterminiert, ausgehöhlt; sein Geist und sein Lebensmut sind gebrochen, sein ganzes Leben bisher verlangt nach Revision.
    Sein stärkster Impuls drängt ihn, sich irgendwo zu verbergen. Der Schriftsteller, der seine Wohnung in London verkauft hat und ohne Bleibe ist, versteckt sich auf dem Land. Er mietet ein Häuschen auf einem Landgut im südenglischen Wiltshire, halbwegs zwischen Salisbury und Stonehenge, dem Inbegriff des prähistorischen, unvergänglichenEnglands. Dort versucht er, die Trümmer seines Lebens und seiner Selbstachtung neu zusammenzusetzen.
    Und hier, im Verborgenen, im Abseitigen, in der Stille eines heruntergewirtschafteten, aber immer noch herrschaftlichen Landgutes in Wiltshire geschieht etwas völlig Unerwartetes. Der Schriftsteller erlebt eine große Heilung, aus der Krise wachsen ihm neue Kräfte zu. Die Fragmente seines Lebens fügen sich zu einem sinnvollen neuen Muster, er versöhnt sich mit seiner Herkunft und kann endlich seine koloniale Vergangenheit ohne Verdrängungen und ohne Scham akzeptieren. Seine künstlerische Existenz erfährt eine Klärung und Steigerung, er schreibt und arbeitet mit einer neuen Sicherheit und besser denn je, seine Sensibilität und sein Wahrnehmungsvermögen verfeinern sich. Der Schriftsteller, der eigentlich nur eine zeitweilige Zuflucht gesucht hatte, bleibt zehn Jahre in seinem Cottage wohnen.
    Jahre später wird er über dieses Jahrzehnt in dem lieblichen Flusstal am Rande der Hochebene von Salisbury als über die glücklichste Zeit seines Lebens schreiben. Was er in diesem verträumten Winkel erlebte, war «das Geschenk eines zweiten Lebens in Wiltshire, eine zweite, glücklichere Kindheit, ein zweites Kennenlernen der Natur (aber mit der Wahrnehmung eines Erwachsenen), dazu noch die Erfüllung des Kindertraumes vom sicheren Haus im tiefen Wald».
    Als Neuankömmling ist der Ich-Erzähler zunächst ein nervöser und ruheloser Entwurzelter, mit einem starken Gefühl der Unzugehörigkeit und Fremdheit. Er hält sich selbst für eine «Seltsamkeit», für einen Eindringling zwischen den Landgütern und Herrensitzen des Tales. Er weiß, dass man ihn, den farbigen karibischen Zuwanderer, vor fünfzig Jahren schwerlich auf dem viktorianischen Adelsgut geduldet hätte, ja, er sieht seine Anwesenheit geradezu als Indiz für den Niedergang und den Zerfall des britischen Empire. Trotzdem erfüllt ihn eben die bedrohte Schönheit dieses Landstrichs mit Glück und Liebe.
    Je deutlicher ihm die Zeichen der Zerstörung und des Verfalls ringsum vor Augen treten, desto weniger fühlt er sich als Fremdkörper. Im Hochgefühl der Ankunft auf dem Lande, die alles ringsum mit vollkommener Schönheit überglänzt, ist bereits der spätere Ruin, dieZerstörung von Natur und Kultur enthalten. Der Adelssitz geht vor die Hunde, sein Eigentümer verliert sich in Depressionen, Altansässige geben auf, die Gärtner sterben aus,

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