Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
stehlen sollten.»
V. S. Naipaul war achtzehn, als er eines Nachts im Sommer 1950 an der Waterloo Station aus dem Zug von Southampton kletterte â der Sohn armer indischer Brahmanen in Trinidad, die im 19. Jahrhundert als Kontraktarbeiter auf die westindische Insel gekommen waren. Der Jüngling hatte ein Stipendium in der Tasche, um in Oxford Englische Literatur zu studieren. Er quartierte sich in einer Pension in Earlâs Court ein und begann, durch die Metropole zu streunen, ohne recht zu begreifen, wo er sich befand, und ohne zu verstehen, was er sah. Er hatte kein Auge für die Architektur, kein Auge für die Menschen.
Er wusste nur, dass er Schriftsteller werden wollte. Dass er als Farbiger angesehen werden könnte, dass man ihn in England gar als Farbigen diskriminieren könnte, das machte ihm Angst, und er verdrängte es: «Herabwürdigung aufgrund der Hautfarbe eignete sich nicht als Material für einen Schriftsteller, wie ich es zu werden gedachte. Weil ich mich als Schriftsteller sah, verbarg ich meine Erfahrungen vor mir selbst, verbarg mich selbst vor meiner Erfahrung. Und auch als tatsächlich ein Schriftsteller aus mir geworden war, brachte ich es viele Jahre nicht fertig, mich dieser Verunsicherung zu stellen.»
Die Streifzüge des jungen Naipaul durch London waren «unbedarft und freudlos. Ich hatte gedacht, die groÃe Metropole würde mich augenblicklich vereinnahmen; ich hatte es gar nicht erwarten können, im GroÃstadtleben aufzugehen. Und schon bald, nach einer Woche, nicht einmal einer Woche, war ich sehr allein.»
In nichts entsprach London den Vorstellungen, die sich der junge Zuwanderer zu Hause, in Trinidad, davon gemacht hatte. Daheim hatte er GröÃenphantasien von der fernen Weltmetropole nachgehangen, doch nun, aus der Nähe gesehen, entpuppten sich die imaginierte GröÃe und Glorie als Glanz von gestern: «Mehr und mehr empfand ich, daà die GroÃartigkeit der Vergangenheit angehörte â daà ich zur falschen Zeit hergekommen war, zu spät, um das England zu finden, das Herz des Weltreichs, das ich (der Provinzler aus meiner entlegenen Ecke des Reichs) in meiner Phantasie geschaffen hatte.» Naipaul erlebte das British Empire nur mehr in der Phase des Niedergangs, als «eine Welt, deren Blütezeit längst Vergangenheit war».
Ja, schlimmer noch: «Ich verlor eine Gabe, die lange Teil von mir gewesen war, ein mir sehr kostbarer Teil. Ich verlor die Begabung zum Phantasieren, den Traum von der Zukunft, dem fernen Ort, zu dem meine Reise ging. Jetzt, an dem Ort, der all die Jahre das â¹Anderswo⺠verkörpert hatte, war kein weiterer Traum denkbar.»
Allen Handicaps zum Trotz konnte V. S. Naipaul sein Lebensziel schlieÃlich doch verwirklichen. Er wurde ein international renommierter Autor und Reiseschriftsteller, dessen skeptische Erfahrungsberichte über Afrika, die Karibik, Indien und die islamische Welt das zeitgenössische Bild der postkolonialen Gesellschaften prägen halfen, aber auch viel Widerspruch provozierten. Doch erst 1987, fast vier Jahrzehnte nach seiner Ankunft in England, vermochte er es, seine Entwurzelung und sein AuÃenseitertum literarisch auf den Begriff zu bringen, sein ambivalentes Verhältnis zu England und zur abgehängten, verwahrlosten karibischen Zuckerrohr-Kolonie seiner Herkunft zu klären und die transkulturellen Fluchtlinien nachzuzeichnen, aus denen er sein hybrides postkoloniales Selbst konstruiert hat.
«Das Rätsel der Ankunft» ist der Versuch einer «Synthese der Welten und Kulturen, die mich geformt haben». Zugleich beschreibt Naipaul darin seine Suche nach einer angemessenen Erzählweise für den Prozess solcher Selbstfindung. Das Buch, in dem Autobiographie, Fiktion, Geschichte, Erinnerung und soziale und kulturelle Analyse ineinanderflieÃen, ist das Dokument einer existenziellen Krise und verdankt seinen Titel einem von Apollinaire so genannten frühen Gemäldedes metaphysischen Malers Giorgio de Chirico, eines Vorläufers des Surrealismus. «Das Rätsel der Ankunft» ist eine philosophische Meditation über Niedergang, Exil, Einsamkeit und Metamorphose, eine Untergangsrhapsodie, eine Elegie auf die melancholischen Schönheiten des Verfalls, ein Abgesang auf das ländliche England und auf die verblichene Glorie des British Empire. Dass dieser Abgesang vom Abkömmling eines Kolonialvolks
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