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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Mutter Maude Tayler ist Doris Lessing nie fertiggeworden; sie hat sie lebenslang angeklagt, als taktlos, dickfellig und zudringlich, und mit erbitterter Feindseligkeit bekämpft – «zuerst voll heißer Empörung, später dann kalt und hart», wie sie später schreiben wird.
    Die Mutter war eine tüchtige Londoner Krankenschwester, die sich in ihren Patienten Alfred Tayler verliebte, einen Kriegsinvaliden mit Holzbein, und ihm erst nach Persien (wo Doris geboren wurde) und dann nach Rhodesien folgte, um ein Leben zu führen, das sie nicht wollte – als Farmersfrau im afrikanischen Busch, an der Seite eines untüchtigen, schwachen Mannes. Die fünfzig Hektar ungerodetes Buschland, die Alfred Tayler 1924 kaufte und urbar machte, in der Hoffnung, dort als Mais-Farmer ein Vermögen zu verdienen, waren von Anfang an eine Fehlspekulation. Die Farm war zu klein, und Mais brachte kein Geld. Tabak und Baumwolle wollten nicht gedeihen. Nachdem auch Sonnenblumen, Hirse und Erdnüsse zu wenig eintrugen, verlegte sich der Vater auf nichtsnutzige Träume von Goldschürferei, ehe er zuckerkrank wurde und sich in jahrelanges Siechtum zurückzog, ein gescheiterter, übellauniger, depressiver Mann.
    Die Mutter hielt das Alltagsleben aufrecht und pflegte den Invaliden. Sie war eine gereizte, unzufriedene Frau, die ihre Identität nurnoch in ihren beiden Kindern fand, denen sie die eigenen enttäuschten Hoffnungen auflud – die Kinder sollten Mutters ungelebtes Leben für sie leben. «Sich für die Kinder aufopfern», nannte es die Mutter. Doch die aufsässige Tochter, das böse, schwierige, unversöhnliche Kind, entzog sich durch die Flucht – in der Furcht, von der tyrannischen Überfürsorglichkeit der Mutter verschlungen zu werden. «Es war nicht die Stärke meiner Eltern, die mich bedrohte», wird sie später schreiben, «es war ihre Schwäche.»
    Das problematische emotionale Gepäck, mit dem Doris Lessing 1949 in London ankam, ist auch in ihr Hauptwerk eingegangen, den Roman «Das goldene Notizbuch» (1962). In keinem anderen ihrer Bücher hat sie sich intensiver mit dem Rätsel der Ankunft auseinandergesetzt, mit der Krise des Selbstverlusts, die ihre ersten Londoner Jahre prägte. Ihre Doppelgängerfigur in diesem Roman ist die Schriftstellerin Anna Wulf; sie durchleidet stellvertretend eine dreifache Krise – erotisch, politisch, schöpferisch. Von ihrem Geliebten verlassen, tritt sie aus der kommunistischen Partei aus und verfällt in eine qualvolle Schreibhemmung. Das Chaos ist nicht mehr zu bändigen, der Zusammenbruch ist nicht aufzuhalten. «Das goldene Notizbuch» ist unter vielem anderen auch die Erkundung einer therapeutischen Reise in den Wahnsinn.
    London hat Doris Lessing durchgerüttelt, doch sie ist aus der Krise als ein anderer Mensch hervorgegangen. Der Zusammenbruch war letztlich eine positive Erfahrung, ein Weg der Selbstheilung, durch die sie in ein neues Lebensmuster geschüttelt wurde – eine Erfahrung, die, wenngleich vielleicht in abgeschwächter Form, vielen Migranten gemein ist.
    Verglichen mit der lebenserfahrenen Dreißigerin Lessing, die bei ihrer Ankunft in London zumindest den kolonialen Diskurs bereits in ihrem politischen Gepäck mitbrachte, erlebten ihre jüngeren Schicksalsgefährten V. S. Naipaul und J. M. Coetzee ihre jeweilige Konfrontation mit den Zerfallskrisen des niedergehenden Empire ganz ohne geistige Schutzmechanismen. Beide Männer waren deutlich jünger als Doris Lessing und intellektuell schlechter gerüstet für das, was sie in London erwartete. Das Rätsel der Ankunft erwies sich auch für sie alsschwierig zu lösen. Und was Kolonialismus bedeutete, ging ihnen in aller Härte erst auf, als sie in England am eigenen Leib Zurückweisungen erlebten und aus dem Londoner Blickwinkel ihre Herkunftsländer mit anderen Augen zu sehen lernten.
    Erst von England aus kann etwa J. M. Coetzee über Südafrika sagen: «Aus europäischer Perspektive erscheint es immer absurder: dass eine Handvoll Holländer am Strand von Woodstock an Land gewatet sein soll und dass diese Leute fremdes Gebiet, das sie nie zuvor gesehen hatten, zu ihrem Eigentum erklärt haben sollen, dass ihre Nachfahren nun dieses Gebiet als das ihre ansehen sollten, weil sie dort geboren wurden. Es war nun wirklich nicht geplant, dass sie den besten Teil Afrikas

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