Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Oberbefehlshaber des Militärs Fouad Chehab, der neutral geblieben war, wurde zum Präsidenten der Republik gewählt. So hatten es die Amerikaner gewollt und Abdel Nasser. Es begann das Gerede über das Gesetzdes â¹Weder Sieger noch Besiegteâº. Die Revolution war zu Ende, und das Leben kehrte zurück.»
Zumindest bis zum Ausbruch des nächsten Bürgerkriegs.
Erwähnte Bücher
Jabbour Douaihy «Morgen des Zorns», Roman (Hanser 2012)
Rawi Hage «Als ob es kein Morgen gäbe», Roman (DuMont 2008)
Elias Khoury «Yalo», Roman (Suhrkamp 2011)
Amin Maalouf «Mörderische Identitäten», Essay (Edition Suhrkamp 2000)
Amin Maalouf «Die Spur des Patriarchen. Geschichte einer Familie» (Insel 2005)
Amin Maalouf «Die Auflösung der Weltordnungen», Aufsätze (Suhrkamp 2010)
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Balkanische Mythen: «Ich bin Jugoslawe â ich zerfalle also»
Jugoslawien existiert seit jeher in zweifacher Gestalt â als reales balkanisches Tohuwabohu und als Mythos. Immer schon war das reale Jugoslawien ein ethnisches, religiöses, sprachliches und kulturelles Puzzle, zerfallen in verfeindete Stämme und Völkerschaften, die sich nie zum Ganzen fügen wollten. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie alle miteinander unter Fremdherrschaften und Besatzungen litten â seien es die Osmanen, die Habsburger, die Truppen Mussolinis oder die Deutsche Wehrmacht â und sich immer wieder aufs Neue in Bürgerkriegen zerfleischten. Die Erinnerung an die Gräueltaten der jeweils anderen lieà sich jahrhundertelang wachhalten und diente dazu, eigene Gräueltaten zu rechtfertigen.
Daneben jedoch gibt es immer auch ein zweites Jugoslawien: den Mythos. Dieses mythische Jugoslawien ist ein fabelhaftes Gespinst aus Balkan-Folklore, Volksmärchen und Stammessagen, ein versponnenes Sammelsurium von Heldenliedern, Leidensgeschichten und Schauermärchen, entsprungen aus Volksfrömmigkeit und Aberglauben. Einerseits. Andererseits ist das mythische Jugoslawien aber auch ein Brodeltopf politischer Phantasmagorien â ein Amalgam aus geträumter Geschichte, nationalen Phantasien, Opfer-, Märtyrer- und Heiligenlegenden, wobei sich Fremdenangst, Misstrauen, vage oder falsch erinnerte historische Untaten, nationale Opfermythen und uralter Hass unter Nachbarn unheilvoll mischen. Moderne und Vormoderne überlagern sich in diesen mythischen Erzählungen und laufen ineinander.
All dies macht den Balkan zum unendlich formbaren Rohmaterial für Literatur. Der Erzählstoff kann Autoren aus Jugoslawien nie ausgehen. Die einen verzaubern den Balkan zum Schattenreich des Aberglaubens, beherrscht von bösen alten Dämonen, oder verklären ihn zum Märchen-Universum, indem sie ihn mit ihren privaten Kindheitsmythen anreichern. Andere Autoren arbeiten daran, ihre eigenen Erfahrungen mit Tito-Jugoslawien und dem blutigen Zerfall des Vielvölkerstaats in Literatur zu transformieren. Geheime Korrespondenzen in der Motivik treten zutage. Die balkanischen Bürgerkriege der 1990er Jahre zählen inzwischen zu den literarisch meistbearbeiteten politischen Konflikten der Gegenwart. Zahlreiche Romane und Erinnerungsbände verdanken sich diesem Krieg, der mehr als 100.000 Menschen das Leben kostete und beinahe zwei Millionen aus ihren angestammten Wohnorten vertrieb.
Zugleich generieren die Kriegsbeschreibungen der Schriftsteller oft neue nationale Mythen. Vor allem in den Romanen ausgewanderter Autoren aus Ex-Jugoslawien finden sich Beispiele, wie aus einer politischen GroÃkatastrophe der Gegenwart mythische Erzählungen entstehen und wie aus den Sezessionskriegen neue Nationallegenden hervorgehen können. So sind etwa die Belagerungen der bosnischen Städte Sarajevo, Tuzla oder ViÅ¡egrad als heroische Leidensmythen literarisch lesbar geworden; und «Snajperska Aleja» («Sniper Alley», die «Allee der Heckenschützen») ist ebenso als neuer Sarajevo-Mythos in die Literatur eingegangen wie der Geheimtunnel unter der Flughafenpiste der Stadt. Aber auch literarische Erfindungen können zu nationalen Mythen werden: Das legendäre FuÃballspiel zwischen den Schützengräben der Bosnier und der Serben in einer Gefechtspause oberhalb von Sarajevo, das sich der Autor SaÅ¡a StaniÅ¡iÄ in seinem ersten Roman ausdachte, hat ebenfalls durchaus das Zeug zu einem neuen Sarajevo-Mythos.
Das reale und das mythische Jugoslawien
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