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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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liebevoll gepflegte Gärten und Parks verwildern, werden zubetoniert oder parzelliert. Traditionen reißen ab, der kulturelle Zusammenhang verschwindet, das Menschengedenken erlischt. Der Efeu erwürgt den Baumbestand, die Rosengärten verholzen, die Ulmen sterben ab, die Krähen nehmen überhand. Überdeutlich stehen der Gutsbesitzer und sein Landgut, das seine Blütezeit Geldern aus den Kolonien verdankt, allegorisch für das imperiale England und dessen Niedergang.
    Die Zeit in Wiltshire tut, als wäre sie stehen geblieben, aber das täuscht. Sie bewegt sich im jahreszeitlichen Kreise – und zugleich in Spiralen vorwärts. Das Buch passt sich dieser Form wie selbstverständlich an, indem es alle Ereignisse zu Kreisen fügt. Erst wenn der Kreis sich schließen soll, wird die Spirale erkennbar.
    Für den Schriftsteller kommt das Jahrzehnt im lieblichen ländlichen England einer Neugeburt gleich: «Ich begann zu genesen. Und mehr als zu genesen. Für mich hatte sich in diesem Tal und auf dem herrschaftlichen Anwesen, auf dem mein Häuschen stand, ein Wunder ereignet. In jener unwahrscheinlichen Umgebung, im uralten Herzen Englands, einem Ort, an dem ich wahrhaft fremd war, fand ich, dass ich eine zweite Chance bekommen hatte, ein neues Leben, reicher und ausgefüllter als jedes, das ich sonstwo gelebt hatte. Die Jahre vergingen. Ich genas. Das Leben um mich änderte sich. Ich änderte mich.»
    Ein Vierteljahrhundert später wird ein anderer Migrant in einer ganz anderen Weltgegend diese Sätze lesen, sich davon aufwühlen lassen und dieses Buch rühmen, als einen der größten «Romane der Einsamkeit». Dieser andere Migrant, auch er ein melancholischer Einzelgänger, wird sich selbst in Naipauls Sätzen wiederfinden: «Ich las und las immer wieder aufs Neue, ich las das Buch wegen seiner Sätze: ihr unfehlbarer, makelloser Rhythmus, die Sensibilität des Augenzeugen, die dahinterstand. Man hatte das Gefühl, dass jeder Baum, jede Hecke, jedes Blatt in Naipauls Wiltshire mit solch ekstatischer Genauigkeit betrachtet wird wie die Gegenstände auf einem frühen flämischen Gemälde. Ein fein moduliertes Porträt eines Mannes, der hilflos im Flussder Zeit gefangen und sich seiner Hilflosigkeit bewusst ist. In seinen öffentlichen Stellungnahmen liebt Naipaul die empörende Grobheit, aber auf den Buchseiten gibt es niemanden, der subtiler und geduldiger wäre als er.»
    Der dem Vorgänger hier so vorbehaltlos und bewundernd huldigt, ist Teju Cole, ein junger nigerianisch-amerikanischer Autor und Kunsthistoriker, der ähnlich fremd und befremdet durch das kalte New York streifen wird wie sechzig Jahre vorher der junge Naipaul durch London. In seinem Debütroman «Open City» wird Teju Cole sein migrantisches Lebensgefühl thematisieren, das dem des jungen Naipaul einerseits sehr ähnlich ist, andererseits aber den gewaltigen Abstand markiert zwischen dem Ende des kolonialen Zeitalters und dem Beginn der globalen Epoche. Der Teju Cole des Jahres 2012 ist bereits der gelassene und souveräne Kosmopolit geworden, der zu werden sich der junge Naipaul im London des Jahres 1950 noch so verzweifelt anstrengen musste.
    Auch der Südafrikaner J. M. Coetzee mit seiner geteilten britisch-burischen Herkunft, der 1962, zwölf Jahre nach Naipaul und dreizehn Jahre nach Doris Lessing, in London eintraf, kannte diese Verzweiflung aus eigener Erfahrung, wenngleich ihn die helle Haut vor den Übergriffen schützte, denen die karibischen Einwanderer inzwischen immer häufiger ausgesetzt waren. Das tolerante Klima zur Zeit der Ankunft der «Windrush» hatte sich in den vierzehn Jahren seither dramatisch verschlechtert. England überließ sich inzwischen punktuell der Xenophobie.
    In seinem semi-autobiographischen Band «Die jungen Jahre» benennt Coetzee die Gründe, die ihn aus Südafrika fortgetrieben haben. Geflüchtet ist er vor der provinziellen Langeweile dort, vor dem Banausentum, vor dem Verfall moralischer Grundsätze im täglichen Leben unter Apartheid-Bedingungen, kurz: vor der Schande. In diesem Buch erzählt Coetzee auch von den ersten Streifzügen seines Helden durch London: «Dann gibt es noch Paddington. Er geht abends um sechs die Maida Vale oder die Kilburn High Road entlang und sieht unter dem gespenstischen Licht der Natriumdampflampen Scharen von Westindern, vermummt

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