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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Leitbegriffe dieses Kinderlebens lauten: «Prüfung» und «Schande». Das Leben besteht aus Prüfungen, und selbst dann, wenn man bei den Prüfungen durchkommt, droht immer noch Schande.
    Im Fortsetzungsband «Die jungen Jahre» treffen wir John zunächstals Neunzehnjährigen wieder. Im Rückblick ist Coetzee um nichts milder gestimmt, wenn er nun das Porträt des Künstlers als junger Mann zeichnet und sich der Studentenjahre in Kapstadt und London erinnert. Streng und gnadenlos ehrlich geht er mit dem eigenen jungen Selbst um, keine nachsichtige Eigenliebe verklärt retrospektiv die frühen Erwachsenenjahre. Coetzee versagt es sich konsequent, den Jüngling, der er war, dem Leser angenehm oder gar sympathisch zu machen. Als ein «Tölpel aus den Kolonien, und noch dazu ein Bure» – so erscheint er den Engländern, wie er meint, und er glaubt zu wissen, dass «seine hölzerne Art, sein verbissen-düsteres Wesen» alle abstoßen muss, besonders die Frauen.
    Schroff hat John seine Wurzeln gekappt, sich von seiner Familie abgewandt und «seine Eltern aus seinem Leben ausgeschlossen», im vollen Schuldbewusstsein, wie sehr er seine Mutter damit kränkt: «Seine Kälte schmerzt seine Mutter, weiß er, die Kälte, mit der er sein ganzes Leben lang ihre Liebe beantwortet hat. Sein ganzes Leben lang wollte sie ihn hätscheln; sein ganzes Leben lang hat er das abgewehrt. Er muss sein Herz gegen sie verhärten.» Als Mathematikstudent in Kapstadt beginnt er ein eigenständiges Leben: «Er ist dabei, etwas zu beweisen: dass jeder Mensch eine Insel ist; dass man keine Eltern braucht.»
    Nach dem Massaker von Sharpeville 1960 und den darauf folgenden Rassenunruhen kehrt John Südafrika den Rücken, dem Land, «wo der Boden unter seinen Füßen mit Blut getränkt ist und die Geschichte bis tief hinab in die Vergangenheit von Zornesschreien widerhallt». Um dem drohenden Militärdienst in Südafrika auszuweichen, setzt er sich nach London ab, «das London der Kälte und des Regens, der Einzimmerwohnungen mit vorhanglosen Fenstern und 40-Watt-Glühbirnen». Hier ist er einer der vielen jungen Leute aus den Kolonien, die in schäbigen Untermietzimmern in Earl’s Court oder Paddington hausen und in der harten Kapitale des Kapitals Fuß zu fassen versuchen, während sie am Rätsel der Ankunft laborieren und ihnen die koloniale Last aus der Kindheit die Seele abdrückt.
    Denn John ist nicht allein gekommen – die doppelte Moralpeitsche aus Kindertagen, «Prüfung» und «Schande», hat er mitgebracht. Nurdass Prüfungen, anders als in der Schule, nun auch unangemeldet stattfinden, und jeder Schritt in Schande münden kann.
    Wie für alle jungen Leute aus den Kolonien ist das London der 1950er und 1960er Jahre auch für John eine widersprüchliche Erfahrung: Stadt der Verheißung, Ort der Befreiung, Stätte der Bewährungsproben, Mauer der Ablehnung. London – das ist «der große Zuchtmeister», das «Tal der Prüfungen»: «Er ist in die große dunkle Stadt gezogen, um geprüft und verwandelt zu werden.» Auch bei Coetzee, wie schon bei Doris Lessing und bei V. S. Naipaul, gibt sich das Rätsel der Ankunft als Metamorphose zu erkennen, als Verwandlungskrise. «Er ist bereit für alles, solange es ihn verwandelt und einen neuen Menschen aus ihm macht. Deswegen ist er ja in London: um sein altes Ich los zu werden. Der Prozess seiner Verwandlung in eine andere Person wird fortgeführt werden, bis alle Erinnerung an die Familie und das Land, die er beide hinter sich ließ, ausgelöscht ist.» Anders als Lessing und Naipaul beginnt John, Coetzees Alter Ego, zu ahnen, dass die Verwandlung darin bestehen wird, der zu werden, der er ist.
    Doch man liest auch: «Er ist nach London gekommen, um etwas zu tun, was in Südafrika unmöglich ist: die Tiefen erkunden.» Nicht die Tiefen von Einsamkeit und Fremdheit – solche Sentimentalitäten will sich Coetzee im Rückblick nicht gestatten, selbst wenn er ausgezogen ist, um als einsame Insel zu leben. «Er hatte geglaubt, eisige Straßen entlangzutrotten, mit einem vor Einsamkeit tauben Herzen, wäre die Tiefe.» Aber dem ist nicht so. «Vielleicht sind die Tiefen, die er ausloten wollte, die ganze Zeit in ihm gewesen, in seiner Brust verschlossen: Tiefen der Kälte, Herzlosigkeit,

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