Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Schurkerei.» Sein junger Held ahnt: Die Gemeinheit, die jetzt hervorbricht, hat wohl immer schon in ihm geschlummert. Was hier schmerzhaft zutage tritt, ist Coetzees ganze Unbarmherzigkeit gegen sich selbst. In Gestalt seines Romanhelden John schneidet Coetzee immer ins eigene Fleisch. Mehr noch: er schmirgelt auf den eigenen Knochen.
Von auÃen her betrachtet macht der junge John seine Sache in London nicht schlecht â jedenfalls weit besser als die Zuwanderer der «Generation Windrush», vielleicht zunächst auch besser als der in seinem Stolz dauergedemütigte westindische Student Naipaul und diemittellose geschiedene Mutter Doris Lessing zwölf, dreizehn Jahre früher. John findet einen gut bezahlten Job als Computer-Programmierer bei IBM und versucht, nebenher seine Magisterarbeit in Literaturwissenschaft zu schreiben, über Ford Madox Ford. Aber vor der rigorosen Instanz seines Gewissens macht John alles falsch. Der Computer-Job ist ein Irrweg und eine Zeitverschwendung, ebenso Ford Madox Ford, ein minderer Meister, der die Mühen einer Magisterarbeit nicht wert ist. Er wirft sich vor, «dass das Leben, welches er hier in London führt, ohne Plan und Sinn ist».
Die Kälte, Gemeinheit und Schurkerei, derer sich John zeiht, bekommen vor allem die Frauen zu spüren: die Mutter ohnehin, vor allem aber die Gelegenheitsfreundinnen, die ihm über den Weg laufen und die er lieblos beschläft und herzlos fallen lässt. Eine hat er bereits in Kapstadt geschwängert und dann mit allen Abtreibungsplagen allein gelassen, nur um sich ungerührt zu fragen, wie viele Männer auf den StraÃen Londons wohl «tote Kinder mit sich herumtragen, die ihnen wie Babyschuhe um den Hals hängen».
Keine Niedertracht lässt sich John unregistriert durchgehen, doch keine verkneift er sich. Er weiÃ, dass ihm mit etwas Charme und Humor alles zufiele, was vor seiner Frostigkeit verkümmert: «Wenn er ein wärmerer Mensch wäre, würde er alles bestimmt leichter finden: das Leben, die Liebe, das Dichten.» Doch «Wärme liegt nicht in seiner Natur», und den Menschen ans Herz zu wachsen, versucht er gar nicht erst.
Sein Projekt, das zunächst unbemerkt Gestalt annimmt, ist der Minimalismus: Er möchte Schriftsteller werden, auch ohne heiliges Feuer, er möchte Künstler sein, nicht aus der Fülle und dem seelischen Reichtum heraus, sondern aus der Erlebnisdürre, aus dem schieren Mangel an Gefühl. Literatur als Mangelerscheinung, als Seelendefizit. Schreiben heiÃt, einem Stein Blut abquetschen. Er entdeckt Samuel Becketts Romane und begreift, dass aus dem Scheitern, dem Weiterscheitern und Immerbesserscheitern groÃe Literatur werden kann. Er verstöÃt Ford Madox Ford, Ezra Pound und T. S. Eliot, seine Hausgötzen, und folgt Beckett nach.
In «Die jungen Jahre» verlassen wir den Vierundzwanzigjährigen,wie er im Lesesaal des British Museum müÃig in Büchern über das alte Südafrika blättert und sich festliest in den Berichten über die Erkundungs- und Eroberungsfahrten der frühen burischen Entdecker. England, denkt er, London â «dieses Land, diese Stadt sind inzwischen eingehüllt in Jahrhunderte voller Worte». Aber im Falle Südafrika ist das anders, über Südafrika sind in der Literatur noch nicht viele Worte gemacht worden. Das würde er gern tun, denkt er: ein Buch über Südafrika schreiben. «Das Schwierige daran wird sein, dem Ganzen eine Aura zu verleihen, die es in die Bücherregale und damit in die Weltgeschichte bringt: die Aura der Wahrheit.»
Auch dies haben die drei «Colonials» Coetzee, Naipaul und Lessing miteinander gemein: dass sie wesentlich dazu beigetragen haben, Südafrika, Trinidad und Rhodesien auf die literarische Landkarte zu setzen und diese Kolonien in der Weltgeschichte und der Weltliteratur zu verorten â mit der Aura der Wahrheit.
Erwähnte Bücher
J. M. Coetzee «Dusklands», Erzählungen (darin die Novelle «The Narrative of Jacobus Coetzee») (Ravan Press 1974)
J. M. Coetzee «Der Junge. Eine afrikanische Kindheit» (S. Fischer 1998)
J. M. Coetzee «Die jungen Jahre» (S. Fischer 2002)
Teju Cole «Open City», Roman (Suhrkamp 2013)
Doris Lessing «Afrikanische Tragödie», Erzählungen (Bertelsmann 1953)
Doris Lessing «Das goldene Notizbuch», Roman (S. Fischer 1978)
Doris Lessing
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