Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
«Kinder der Gewalt» (1. Martha Quest 2. Eine richtige Ehe 3. Sturmzeichen 4. Landumschlossen 5. Die viertorige Stadt) (Klett-Cotta 1981â1984)
Andrea Levy «Eine englische Art von Glück (Small Island)», Roman (Eichborn 2007)
V. S. Naipaul «Ein Haus für Mr. Biswas», Roman (Kiepenheuer & Witsch 1981)
V. S. Naipaul «Das Rätsel der Ankunft», Roman (Kiepenheuer & Witsch 1993)
Michael Ondaatje «Katzentisch», Roman (Hanser 2011)
Sam Selvon «The Lonely Londoners», Roman (Alan Wingate 1956)
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In den indischen Enklaven
Migration ist ein scharfer Einschnitt im Leben und bedeutet fast immer Statusverlust. Das Ansehen, das man in der vertrauten Herkunftswelt wie selbstverständlich genoss, der Status, der einem daheim ganz fraglos zugebilligt wurde â all das gilt nicht mehr für den Migranten. In der Fremde kennt ihn keiner; keiner weiÃ, wer er früher war und was er in den Augen seiner Umwelt darstellte; keinen kümmern sein früherer Rang und Name und seine familiäre Herkunft; sein einstiger Status hat keine Gültigkeit mehr und lässt sich auch nirgends einklagen.
Ein solcher Verlust an Ansehen und Geltung widerfuhr beispielsweise den Vätern der britisch-pakistanischen Autoren Hanif Kureishi und Nadeem Aslam, als sie vom indischen Subkontinent nach England emigrierten. Beide büÃten ihren gewohnten Status ein â auf unterschiedliche Weise, aber ähnlich schmerzhaft. Wenn Hanif Kureishi in seinem Erinnerungsbuch «Mein Ohr an deinem Herzen» feststellt, sein Vater Rafinshan («Shani») Kureishi habe in England «ein halb gebrochenes Leben» geführt, dann trifft das erst recht auf Nadeem Aslams Vater zu, einen pakistanischen Dichter und Filmproduzenten aus dem Punjab nördlich von Lahore.
Aslam senior, der mit einer frommen Frau aus begüterter muslimischer Familie in einer wie üblich arrangierten Ehe lebte, war sich nach dem Militärputsch General Zia ul-Haqs im Jahr 1977 in Pakistan seines Lebens nicht mehr sicher. Zias Islamisierungskampagne traf säkulareIntellektuelle, Journalisten und Schriftsteller besonders hart â und erst recht radikale Kommunisten wie Aslam. Sie wurden verfolgt und hatten Verhaftung und Folter zu gewärtigen, sofern sie nicht als politische Flüchtlinge ins Exil gingen.
Nadeem Aslam war vierzehn, als sein Vater 1980 mit der Familie nach England floh und sich in der nordenglischen Industriestadt Huddersfield, West Yorkshire, niederlieÃ, wo es bereits eine groÃe Gemeinde pakistanischer Immigranten gab. Fast ein Fünftel der Einwohnerschaft von Huddersfield sind heute Nicht-WeiÃe; die gröÃte ethnische Gruppierung (vor der Zuwanderung aus Schwarz-Afrika) sind Arbeitsmigranten und politische Flüchtlinge vom indischen Subkontinent, aus Pakistan, Indien, Bangladesch und Sri Lanka. Nadeem Aslams Vater, der Künstler und Intellektuelle, musste in England einen demütigenden Status-Absturz hinnehmen: Er brachte sich und seine Familie als Müllmann und Fabrikarbeiter durch.
In seinem Roman «Atlas für verschollene Liebende» hat Nadeem Aslam das Leben in einem solchen Ghetto armer Immigranten aus Pakistan beschrieben und in fiktional verschleierter Form seine eigene schwierige, entwurzelte Familiensituation dargestellt. Huddersfield selbst taucht darin nirgends namentlich auf. Im Roman wird die Stadt nur «Dasht-e-Tanhaii» genannt â wie ein berühmtes Ghasel des Urdu-Dichters Faiz Ahmad Faiz heiÃt, dem Nadeem Aslam den Roman auch gewidmet hat. «Dasht-e-Tanhaii» â das bedeutet Wildnis der Verlassenheit, Wüste der Einsamkeit.
Verglichen mit dem radikal gebrochenen Leben von Aslam senior ist das halb gebrochene Leben von Hanif Kureishis Vater glimpflich zu nennen. Gleichwohl ist der soziale Abstieg unübersehbar, den die indisch-muslimische GroÃfamilie Kureishi nach dem Ende der britischen Herrschaft auf dem Subkontinent im Jahre 1947 durchmachte. In seiner Vater-Sohn-Erzählung «Mein Ohr an deinem Herzen. Erinnerungen an meinen Vater», seinem bisher persönlichsten Buch, zeichnet Hanif Kureishi die Niedergangsgeschichte seiner Familie nach, die von den feudalen Kolonial-Villen seiner GroÃeltern in Indien in das unscheinbare Mittelschicht-Reihenhaus seiner Eltern im Londoner Vorort Bromley führte.
Sein GroÃvater, Colonel Kureishi, ein angesehener und wohlhabender Militärarzt, galt im
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