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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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britischen Indien beinahe als Sahib. Seine Ausbildung erhielt er am Londoner
King’s College.
Als Colonel der Armee gehörte er zum elitären «Indian Medical Service». Im Abendlicht des British Empire führte er ein durchaus herrschaftliches Haus, erst in Madras, dann in Poona, mit Esszimmer, Salon, Bibliothek, Mahagoni-Tischen, Kronleuchtern und Ledersofas, mit Gemälden aus der Mogul-Zeit und chinesischen Vasen. Und natürlich mit zahlreicher Dienerschaft. Anglisiert im Lebensstil wie er war, stellte der Großvater in Poona sogar eine eigene Cricket-Mannschaft auf, denn Cricket war der Lieblingssport der englischen Oberschicht, und deren Allüren eiferte die koloniale indische Oberschicht in allem nach.
    Der Colonel hatte zwölf Kinder; Hanif Kureishis Vater Shani gehörte zu den jüngsten. In Poona besuchte der Junge eine katholische Missionsschule, die von Jesuiten geführt wurde. Er wurde in einer Kutsche zur Schule gefahren, und ein Diener trug ihm seine Cricket-, Polo- und Boxausrüstung nach. Doch dann quittierte der Colonel den Dienst, gab seine Stellung als Militärarzt auf, wollte Unternehmer werden, kaufte eine Fabrik und zog mit seiner riesigen Familie nach Bombay. Damit begann der soziale Abstieg, denn das Unternehmen lief nicht gut. Mit der Uniform hatte der Colonel auch Macht und Autorität eingebüßt. Dem Sohn Shani fiel die geschrumpfte Statur seines Vaters peinlich auf, als er ihn während der Versteigerung der Familienhabseligkeiten im Auktionshaus beobachtete. Er beschreibt den Vater als «die Unscheinbarkeit in Person mit seinem weißen Safarihemd, der weiten Hose und den offenen Sandalen».
    Die Teilung Indiens hat auch die Familie Kureishi geteilt. Mit dem Ende des Empire wurde sie zerrissen und in alle Welt zerstreut. Die familiäre Kohäsion ließ nach, die Fliehkräfte nahmen zu. Wie so oft waren auch der Zerfall dieser Familie und ihre transkontinentale Verstreuung politisch verursacht. Die Kinder und Kindeskinder des Patriarchen leben heute in der Diaspora – in Indien, Pakistan, Kanada, in London, New York oder Dubai, sogar in Deutschland. Doch überall gilt: Der einstige Status der Familie, die der einheimischen kolonialenOberschicht angehört hatte, ist im Westen gar nichts und auf dem Subkontinent nur noch wenig wert.
    Hanif Kureishis Vater Shani war ein talentierter Cricket-Spieler, gab aber eine mögliche Karriere als Profi-Spieler auf, wurde zum Studium nach England geschickt und landete nach einigen Fehlstarts und akademischen Misserfolgen im diplomatischen Dienst, allerdings in subalterner Position. Er heiratete eine englische Frau und bekleidete dreißig Jahre lang einen untergeordneten und langweiligen Beamtenposten an der Pakistanischen Botschaft in London, träumte aber sein Leben lang sehnsüchtig von einer Karriere als Schriftsteller. Er schrieb Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Hörspiele – für die Schublade. Nichts davon wurde je veröffentlicht, alle Verleger und Agenten lehnten die Manuskripte ab. Kureishi senior konnte die Enttäuschung und Verbitterung über diese Fehlschläge und sein Scheitern als Autor niemals verwinden. Er nahm diese ständigen Zurückweisungen persönlich; sie waren eine traumatische Erfahrung, die das häusliche Leben der Familie in Hanif Kureishis Kindheit bestimmte und auch seine Erinnerungen an den Vater schmerzlich durchzieht.
    Â«Mein Ohr an deinem Herzen» ist ein disparates Buch: Es wirkt improvisiert, sprunghaft, formlos, unstrukturiert, franst an den Rändern aus. Und es ist schwer zu kategorisieren: Es mischt Autobiographie und intime Vater-Sohn-Geschichte mit eher abstrakten Meditationen über Kolonialismus, die indo-pakistanische Geschichte sowie Rassen- und Klassenfragen, das Ganze durchsetzt mit Bekenntnissen über Kureishis eigene Entwicklung zum Schriftsteller und (nicht übermäßig originellen) Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Leben und Fiktion, Schreiben und Identität.
    Der Untertitel des englischen Originals verweist in seiner Doppeldeutigkeit bereits auf das Grundthema des Buches: «Reading My Father». Indem der Sohn die verschollen geglaubten Manuskripte seines verstorbenen Vaters liest und kommentiert, sucht er zugleich nach einer Lesart, einer Deutung für dessen Leben – immer im Vergleich zu seinem eigenen Leben, in den Parallelen wie auch in den Unterschieden.
    Der Sohn

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